Würzburg

Credo: Biblische Vielfalt

Wer auf die Vielfalt der Lebensgeschichten in der Bibel pocht, um etwa Scheidung oder Homosexualität zu rechtfertigen, hat nicht genau hingeschaut. Warum man bei Vielfalt nicht einfältig sein sollte.
Bibel und Vielfalt
Foto: fotolia.de | In der Heiligen Schrift findet sich eine große Vielfalt unterschiedlichster Geschichten und Ereignisse. Dabei werden auch die negativen Seiten menschlichen Verhaltens nicht verschwiegen.

Vielfalt ist das Zauberwort unserer Zeit – und das gleich in doppelter Hinsicht. Es öffnet dem Sprecher einerseits auf magische Weise das Tor zur Schatzkammer sagenumwobener staatlicher Fördermittel. Andererseits hat es aber auch eine magische Wirkung auf die Zuhörer, versetzt es sie doch in einen Zustand partieller Blindheit für gewisse gesellschaftliche Realitäten. Der Gebrauch des Wortpaares „Biblische Vielfalt“ hat eine nicht minder blendende Wirkung. Es wird vor allem bei Fragen kirchlicher Familienethik ins Feld geführt, um beispielsweise Dinge wie Scheidung oder Homosexualität zu rechtfertigen mit der Begründung, diese Praktiken würden zur Vielfalt der biblischen Wirklichkeit gehören.

Alle Elemente einer zünftigen BILD-Schlagzeile vereint

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Nun ist es zweifellos richtig, dass sich innerhalb der Heiligen Schrift eine große Vielfalt unterschiedlichster Geschichten und Ereignisse findet. Dabei werden auch die negativen Seiten menschlichen Verhaltens keineswegs verschwiegen, im Gegenteil. Mord, Verrat, Folter – kaum etwas bleibt dem gründlichen Leser erspart. Es sei auch erwähnt, dass viele dieser Schandtaten keineswegs nur von den Schurken, sondern durchaus auch von den Helden der jeweiligen Erzählung begangen werden. In familiärer und sexueller Hinsicht bieten die biblischen Geschichten ebenfalls eine enorme Bandbreite, wiederum auch und gerade im negativen Spektrum. Prostitution, Inzest, Ehebruch – alle Elemente einer zünftigen BILD-Schlagzeile finden sich hier vereint.

„Angesichts der Vielfalt biblischer Bilder (…) bleibt entscheidend, wie Kirche und Theologie die Bibel auslegen.“ Dieser Satz findet sich in einer „Orientierungshilfe“ der Evangelischen Kirche in Deutschland. Es entbehrt einer gewissen Ironie nicht, dass sich die Evangelische Kirche hiermit gleichsam ein eigenes kirchliches Lehramt schafft, während sie das reformatorische Prinzip sacra scriptura sui ipsius interpres („Die Heilige Schrift ist ihre eigene Auslegerin“) unter den Tisch fallen lässt. Dabei wäre ausgerechnet dieses Prinzip im vorliegenden Fall so hilfreich gewesen. In besagter Orientierungshilfe heißt es beispielsweise, es gebe in der Bibel zahlreiche Verurteilungen homosexueller Praxis, aber auch „biblische Texte, die von zärtlichen Beziehungen zwischen Männern sprechen“. Zwar darf man getrost hinterfragen, ob Zärtlichkeit zwischen Männern automatisch mit homoerotischen Neigungen einhergeht, aber es ist durchaus zutreffend, dass sich in der Bibel Berichte über praktizierte Homosexualität ebenso finden wie Verurteilungen derselben.

Heilige Schrift enthält deskriptive und präskriptive Texte

Das hat aber nichts mit biblischer Vielfalt zu tun, sondern mit unterschiedlichen Textgattungen. Die Heilige Schrift enthält sowohl deskriptive als auch präskriptive Texte. So gibt es in der Bibel zahlreiche Erzählungen (deskriptiv) über Mord, Diebstahl et cetera. Zugleich finden wir die hierzu passenden präskriptiven Elemente, teils in Form von allgemeinen Geboten („Du sollst nicht töten“, „Du sollst nicht stehlen“ et cetera), teils in Form unmittelbarer Zurechtweisung wie etwa im Falle Davids, der durch den Propheten Nathan über seine Schandtat bezüglich Bathseba belehrt wird.

Wer deskriptive Texte wie präskriptive behandelt, begeht einen klassischen Denkfehler, indem er von einem Sein auf ein Sollen schließt. Wer diese simple Unterscheidung hingegen beherzigt, wird sich durch die „biblische Vielfalt“ nicht verwirren lassen. Für einfältige Gemüter würde vielleicht ein „Bitte nicht nachmachen“-Aufkleber helfen.

Die Reihe zu theologischen Denkfehlern wird im nächsten „Credo“ fortgesetzt

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