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Bernhard Lichtenberg trotzte den Nazis und ihrem Judenhass

Vor 80 Jahren starb der Berliner Dompropst auf dem Transport ins Konzentrationslager Dachau. Mutig und entschlossen stellte er sich damals dem Judenhass der Nazis entgegen. Gerade heute ist sein Vermächtnis aktueller denn je.
In der Gedenkkirche Regina Martyrum ist der selige Bernhard Lichtenberg vorübergehend bestattet worden.
Foto: Oliver Gierens | In der Gedenkkirche Regina Martyrum ist der selige Bernhard Lichtenberg vorübergehend bestattet worden.

Ein frommer Sturkopf – so heißt ein Film über den seligen Bernhard Lichtenberg (1875-1943) aus dem Jahr 2015. Vor 80 Jahren bezahlte er diese „Sturheit“ im besten Sinne des Wortes mit seinem Leben: Der Priester und Dompropst stellte sich den Nationalsozialisten und ihrem millionenfachen Unrecht an den Juden entgegen – nicht mit Waffen oder Gewalt, sondern mit der Kraft des Wortes und des Gebetes. „Ich werde meinem Gewissen folgen und alle Konsequenzen auf mich nehmen“: Diese Maxime Lichtenbergs lebte er in der Haft vor. Am 5. November 1943 starb er im oberfränkischen Hof bei einem Gefangenentransport auf dem Weg ins Konzentrationslager Dachau.

Wallfahrt zum Grab

Mit der Wallfahrt anlässlich seines 80. Todestages hat das Erzbistum Berlin am Sonntag mit einem Pontifikalamt in der Gedenkkirche Maria Regina Martyrum an der früheren NS-Hinrichtungsstätte Plötzensee im Nordwesten Berlins an den NS-Widerstandskämpfer erinnert. Und hier ist der Märtyrer derzeit auch bestattet: Wegen der aktuell fortgesetzten Umbaumaßnahmen in der St.-Hedwigs-Kathedrale wurde der Sarkophag Lichtenberg einstweilen in die Gedenkkirche verlegt. Im nächsten Jahr soll Lichtenberg wieder umgebettet werden – und die alljährliche Wallfahrt zu seinen Ehren wieder nach St. Hedwig führen.

Der Berliner Weihbischof Matthias Heinrich erinnerte in seiner Predigt an die Reichspogromnacht vom 9. November 1938, die bei Lichtenberg einen starken Eindruck hinterlassen habe. Seitdem betete der Dompropst jeden Abend in der Hedwigskathedrale für die verfolgten Juden, die Christen mit jüdischer Abstammung und andere Opfer des Nazi-Regimes – bis die Nazis ihn am 23. Oktober 1941 festnahmen. Der Grund: Lichtenberg hatte eine „Kanzelvermeldung“ diktiert, in der er die Katholiken dazu aufforderte, einem vom NS-Propagandaministerium vorbereiteten Flugblatt keinen Glauben zu schenken, das den Juden „Verrat am eigenen Volk“ vorwarf. Zu der Vermeldung kam es allerdings nicht mehr. Zwei Mädchen der NS-Organisation „Bund Deutscher Mädel“ hatten Lichtenberg angezeigt, so Weihbischof Heinrich.

„Aber wem folgt das Gewissen?"

Beginn des Leidens

Für Lichtenberg begann an diesem Tag seine Leidensgeschichte. Auch weil er in Verhören seine pro-jüdische Haltung verteidigte, verurteilte ihn ein NS-Sondergericht im Mai 1942 wegen „Kanzelmissbrauchs“ und Verstoß gegen das „Heimtückegesetz“ zu einer zweijährigen Haftstrafe unter Anrechnung der Untersuchungshaft. Als der damalige Berliner Bischof Konrad Graf von Preysing ihm ein Angebot der Gestapo unterbreitete, gegen ein Predigtverbot bis Kriegsende freizukommen, lehnte er ab. Unmittelbar nach dem Ende seiner regulären Haftzeit wurde er in „Schutzhaft“ genommen und sollte ins KZ Dachau überführt werden – das er nicht mehr erreichte.

Bernhard Lichtenberg starb vor 80 Jahren
Foto: KNA | Der selige Bernhard Lichtenberg.

Auch heute fragten immer noch Menschen, was Lichtenberg angetrieben habe und was ihm Kraft gegeben habe, so zu handeln, sagte Weihbischof Heinrich in seiner Predigt. Lichtenberg habe darauf im Gestapo-Verhör selbst eine Antwort gegeben: „Ich kann als katholischer Priester nicht von vorneherein zu jeder Verfügung und Maßnahme, die von der Regierung getroffen wird, Ja und Amen sagen. Wenn sich die Tendenz derartiger Regierungsverfügungen und Maßnahmen gegen mein priesterliches Gewissen richtet, dann werde ich meinem Gewissen folgen.“ Dem Gewissen folgen: Das, so Heinrich, sei eigentlich nichts Besonderes.

„Aber wem folgt das Gewissen? An welchen Normen und Werten muss man das Gewissen ausrichten, damit es immer noch ein Organ der persönlichen Wahrheitsfindung bleibt und nicht zu einem Orakel subjektiver Wirklichkeit wird?“, fragte der Weihbischof. Das Gewissen selber bilde keine Normen und Werte. Es habe sich nach Vorgaben zu richten, die ihm selber gegeben seien. Und diese Vorgaben, so Heinrich weiter, seien für Lichtenberg in den Vorgaben der Bibel zu finden gewesen – aber auch in den Herzen der Menschen.

„Ihr Zeugnis hat die Dunkelheit durchbrochen.
Ihr Zeugnis hat den Sieg Christi angekündigt.“

 

Dem Gewissen folgen 

Lichtenberg sei nicht nur ein Mann des Glaubens, sondern auch des Gewissens gewesen. „Seinem Gewissen wollte er folgen, koste es, was es wolle“, sagte Heinrich. Und so sei Lichtenberg selbst zu einem Gewissen in einer Zeit geworden, die kein Gewissen gehabt habe – oder es nicht habe annehmen wollen. „Er hat Zeugnis gegeben mit seinem Leben und mit seinem Sterben für die Größe, für die Wahrheit und die Liebe Gottes“, so der Weihbischof.

Dort, wo sich Hass und Gewalt ausbreiten, habe es auch immer Menschen gegeben, die Menschlichkeit bewiesen hätten und die die Liebe geübt hätten. „Ihr Zeugnis hat die Dunkelheit durchbrochen. Ihr Zeugnis hat den Sieg Christi angekündigt.“ Darum lohne der Blick auf die Zeugen des Kreuzes. „Sie haben mit ihrem Leben bewiesen, dass Gott wirkt und dass er lebt und da ist – selbst noch in den dunkelsten Stunden der Menschheit.“

Und dieses Zeugnis ist auch in der heutigen Zeit wieder wichtig und zentral, erklärte Pfarrer Lutz Nehk, Beauftragter für Erinnerungskultur und Gedenkstättenarbeit im Erzbistum Berlin, im Gespräch mit der „Tagespost“. Wenn heute wieder Juden in Deutschland Angst haben müssen, sich in der Öffentlichkeit zu erkennen zu geben, erinnere das zumindest etwas an die Situation rund um die Pogromnacht vor 85 Jahren – mit der Zerstörung der Synagogen und Geschäfte von Juden, mit ihrer Belästigung. Allein schon mit den Davidstern-Schmierereien an Häusern in Berlin gebe es optische Parallelen. Auch damals sei der Davidstern angezeichnet worden, um deutlich zu machen, dass dort Menschen lebten, die diskriminiert, verachtet und ausgegrenzt würden. „Das passiert ja tagtäglich auch jetzt“, sagte Pfarrer Nehk. „Die Methoden haben sich nicht sehr geändert.“

Gebet als politische Tat

Dennoch sei die Situation zwischen 1938 und heute nur bedingt vergleichbar, machte er deutlich. „Die Verfolgung durch den Nationalsozialismus war systematisch angelegt. Da gab es Programme, Richtlinien, wie das zu geschehen hat – das war staatlich veranlasst“, so Nehk. Was jetzt geschehe, sei spontan, nicht geordnet – aber dass das aus dem tiefen Bewusstsein von Menschen komme, aus festsitzenden Schemata, die sich jetzt entladen würden, sei sehr bedenklich.

Zudem seien Demonstrationen pro Palästina immer auch Demonstrationen gegen Jüdinnen und Juden. Mit seinen täglichen Gebeten in der Hedwigskathedrale habe Lichtenberg seine Solidarität mit ihnen zum Ausdruck gebracht. „Ich glaube, darum würde es ihm auch heute gehen“, sagte Pfarrer Nehk – um Solidarität mit Juden und allen Menschen, die diskriminiert, erniedrigt und ausgegrenzt würden.

Sein Gebet sei damals auch eine politische Tat gewesen, sagte Pfarrer Nehk – weil er in dieser Zeit für Juden gebetet habe, obwohl er gewusst habe, dass die staatliche NS-Propaganda genau das Gegenteil angesagt habe, sei das hochpolitisch gewesen. „Also müsste unser Gebet auch politisch verstanden werden“, forderte er. Kirche, so ist er überzeugt, müsse in diesem Sinne politischer sein. „Sie müsste in der Öffentlichkeit meines Erachtens wesentlich stärker als bisher sich auf die Seite der jüdischen Mitbürgerinnen und Mitbürger stellen.“ Das geschehe zwar bereits, aber es sei manchmal nicht laut oder deutlich genug, so Pfarrer Nehk.

Frieden und Gerechtigkeit

Es sei zwar zutreffend, dass im Nahost-Konflikt Gewalt von beiden Seiten ausgehe. „Die Gewalt seitens der Hamas ist eine provozierende, eine angreifende Gewalt. Auf Seiten Israels ist es eine verteidigende Gewalt“, betonte er. Das mache einen großen Unterschied in der Beurteilung. Immer, wenn die Zivilbevölkerung leide, sei das für beide Seiten schrecklich – aber unsere Solidarität müsse vor allem den Angegriffenen gelten. Das müsse in öffentlichen Stellungnahmen auch deutlich werden, forderte er.

Den christlich-islamischen Dialog verteidigte er als wichtige und gute Sache. In punkto Frieden und Gerechtigkeit sei man da auch einer Meinung, unterstrich Nehk. In der Vergangenheit sei vom Islam immer wieder eingefordert worden, dass er dazu Stellung nehmen solle. Dies sei zum großen Teil auch geschehen. Allerdings erreiche dieser Dialog viele Muslime nicht. Ein Teil der Migranten betrachte Antisemitismus gewissermaßen als Teil ihrer Kultur und Identität, den diese Menschen mitgebracht hätten – und ihm nun freien Lauf lassen würden. „Die Solidarität mit den Palästinensern ist nicht verkehrt, aber damit einen Vernichtungswillen gegenüber dem jüdischen Volk zu dokumentieren, das ist das Verwerfliche.“

Allerdings ist auch Bernhard Lichtenberg noch in einer Zeit groß geworden, in der auch innerhalb der Kirche antijüdische Ressentiments noch längst nicht ausgeräumt waren. Geändert hat sich das grundlegend erst mit dem Zweiten Vatikanischen Konzil. Dass sich Lichtenberg hier als Kritiker der offiziellen kirchlichen Haltung hervorgetan habe, sei ihm nicht bekannt, sagte Pfarrer Nehk. Es gebe aber eine Stelle, in der er sich dazu äußerte, dass nach der Nazi-Propaganda Juden als „Untermenschen“ angesehen worden seien. Da argumentiere er aus dem Schöpfungsgedanken heraus, die Juden seien Menschen mit gleicher Würde und gleichen Rechten. „Das scheint mir ein deutlicher Hinweis auf die Beurteilung der Juden innerhalb der katholischen Kirche in damaliger Zeit gewesen zu sein“, so der Beauftragte für Erinnerungsarbeit. Auch in den Verhören habe er immer wieder gesagt, den Juden gegenüber gelte das Gesetz der Nächstenliebe. Das heiße, mit ihnen solidarisch zu sein und öffentlich für sie einzutreten.

Was sind unsere Grundsätze 

„Natürlich wird Lichtenberg die Theologie seiner Zeit so gesehen haben und war kein Vorreiter einer Erneuerung des Verhältnisses zum Judentum“, so Nehk. Aber diese Solidarität, die Anerkennung der Synagogen als Gotteshäuser und die Aussage, dass das Judentum eine Religion sei, die man anerkenne und schätze – das habe Lichtenbergs Haltung ausgemacht. Er sei aufgrund der politischen Verhältnisse solidarisch mit den Juden gewesen – das sei nach Lichtenbergs Überzeugung die Aufgabe der Christen seiner Zeit gewesen. „Und das ist auch unsere Aufgabe als Kirche heute“, ist Nehk überzeugt. „Seine Anfrage an uns heute wäre: Was sind eigentlich unsere Grundsätze, aus denen heraus wir handeln?“ Das sei immer eine Frage an jeden Einzelnen – und Lichtenberg habe in einem Verhör gesagt: „Sind die Grundsätze falsch, aus denen heraus man handelt, dann können auch die Handlungen nicht richtig sein.“ Über die Grundsätze unseres gemeinsamen Handelns nachzudenken, müsse auch Aufgabe der Kirchen sein. „Da müssten die Kirchen einen Beitrag zu leisten – und der könnte ein wenig kräftiger ausfallen“, so Nehk.

Das bestätigte auch Christa Zanker, eine Besucherin der Lichtenberg-Wallfahrt aus Immenstadt im Allgäu, die mit einer Reisegruppe in Berlin war. Seit 55 Jahren kommt sie regelmäßig in die Stadt, hat Verwandtschaft dort. Das Lebenszeugnis Lichtenbergs hält sie heute für so aktuell wie damals. „Wir sollten den Mut haben, für Geradlinigkeit einzutreten im politischen wie im kirchlichen Bereich“, sagte Zanker. Die Kirche habe heutzutage zu viel Angst anzuecken und würde daher Positionen unnötigerweise aufgeben. So habe es heftige Diskussionen gegeben, ob das Kreuz an der Hedwigskathedrale nach der Renovierung wieder angebracht werden sollte. Eine solche Debatte finde sie unmöglich – und immerhin ist das Kreuz inzwischen wieder angebracht.


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