Weihnachtsforum 2021

Wenn Kinder ängstlich sind

Die Folgen unsicherer Bindung betreffen zunehmend Kinder. Woran man Bindungsprobleme erkennen und was man dagegen tun kann.
Eltern-Kind-Beziehung vertiefen
Foto: Imago Images

Angststörungen unter Kindern nehmen zu. Kinderärzte schlagen seit Jahren Alarm, doch mittlerweile hört niemand mehr hin. Man hält es für selbstverständlich, dass Kinder nervös und gestresst sind. Aber dieser Zustand ist nicht normal – und man kann ihn ändern. Dafür lohnt es sich, die Bindung eines Kindes anzuschauen: Denn wenn Kinder nicht sicher gebunden sind, bleiben sie ängstlich, egal, was man sonst tut.

Was ist Bindung überhaupt? Sichere Bindung ist ein Konzept aus der Bindungstheorie, das aus Psychoanalyse und Entwicklungstheorie gewachsen ist, und heute in der Psychotherapie zum Einsatz kommt. Unter Bindung versteht man die Basis für zwischenmenschliche Beziehungen, die Überzeugung, dass man wirklich geliebt ist. Sicher gebundene Menschen wissen, dass sie ihre Bedürfnisse äußern können, und dass andere ihnen helfen werden, ohne wütend zu werden oder sie zu verlassen. Unsicher gebundene Menschen hingegen glauben, dass etwas mit ihnen nicht stimmt, und dass andere Menschen ihnen deshalb nicht helfen werden.

Bindungen sind ein Grundbedürfnis

Unsichere Bindung äußert sich bei Kindern zum Beispiel durch Perfektionismus bei Kunstprojekten oder Schulnoten, durch Nervosität beim Kennenlernen fremder Menschen, Trennungsangst, die Fehlwahrnehmung, dass Freunde und Eltern ständig wütend auf sie seien, Depression, sowie Aufmerksamkeits-, Schlaf- oder Konzentrationsstörungen. Bindungsprobleme werden begünstigt durch traumatisierende Ereignisse, zum Beispiel durch die Scheidung der Eltern, sexuellen oder emotionalen Missbrauch oder Vernachlässigung. Doch auch ohne ein größeres Trauma können Kinder Bindungsprobleme entwickeln. Das liegt unter anderem daran, dass Eltern unsichere Bindungen weitergeben können: Wenn eine Mutter oder ein Vater als Kind missbraucht und vernachlässigt wurde, weiß er oder sie zwar, vor was er das Kind bewahren will – aber es fehlt oft das Wissen, was man der Beziehung positiv hinzufügen kann.

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Bindung verlangt nämlich ein bestimmtes Maß an Interaktionen von den Eltern, die die Beziehung nähren. Wenn Eltern dafür keine Methode kennen, könnten sie unwissentlich destruktive Botschaften an das Kind senden und ihre Bindung beschädigen. Kinder glauben von Natur aus, dass sie der Grund für alles sind, was ihnen zustößt. Wenn sie schlecht behandelt werden, glauben sie, dass sie es verdient haben, dass sie es irgendwie herbeigeführt haben. Diese Botschaften rutschen ins Unterbewusste, wo sie das Selbstbild des Kindes formen, und sein Verhalten verschlossener, abwehrender und nervöser machen.

Deshalb werden manche betroffene Kinder Perfektionisten. Sie versuchen durch ihre Handlungen und Leistungen Liebe zu verdienen. Andere erkennen, dass es unmöglich ist, Liebe zu verdienen und stoßen Menschen deshalb von sich weg. So versucht das Kind sich vor dem Schmerz, von einer Bindungsperson verlassen zu werden, zu schützen. Die Angst, verlassen zu werden, ist der Kern von Bindungsproblemen, und wird für die Psyche des Kindes die oberste Priorität.

Als Eltern gescheitert?

Wenn Eltern mehr über die Folgen von Bindungsproblemen lernen, fühlen sie sich oft schuldig, weil sie glauben, dass sie das Glück ihres Kindes ruiniert haben und als Eltern gescheitert sind. In Wahrheit tun die meisten Eltern natürlich alles, was sie können. Und tatsächlich gibt es einfache Schritte, um die Beziehung zum Kind und dessen Bindung zu verbessern. Zuerst ist es hilfreich, die eigene Bindungsfähigkeit zu verbessern, um dem Kind Bindung richtig vorleben zu können. Der zweite Schritt besteht darin, mit dem Kind ehrlich zu sein und es dazu ermutigen, die eigenen Selbstannahmen zu äußern und zu hinterfragen. Dann kann man daran arbeiten, die Beziehung zu vertiefen. Um das zu tun, muss man mit dem Kind Zeit verbringen und dabei ganz bewusst tiefere Themen anzusprechen: die Wahrnehmungen, Sorgen und Gedanken des Kindes. Es geht nicht darum, die Kinder zu verhören – Kinder zu zwingen, über ihre Gefühle zu sprechen, belastet sie noch mehr – sondern darum, ihnen Interesse zu signalisieren und Aufmerksamkeit zu schenken.

Eine gute Übung dafür ist die 10-Minuten-Bindungsmethode. Eine überwältigende Zahl von Verhaltensproblemen bei Kindern wurzelt in einem Gefühl der Isolation. Viele Eltern, die arbeiten oder mehrere Kinder haben, bemerken nicht, dass ihre Kinder nicht genug persönliche Zeit mit ihnen bekommen. Das Ziel der Übung ist, dafür einen Rahmen zu schaffen und diese Verbindung zu heilen.

Bei der Übung legt man alle Elektronik und sonstige Ablenkungen beiseite, setzt sich mit dem Kind hin, und erklärt, dass man nun zehn Minuten ohne Unterbrechung mit ihm zusammen verbringen wird. Man kann auch einen Wecker stellen, und dem Kind zeigen. In diesen zehn Minuten schenkt man dem Kind seine vollständige Aufmerksamkeit. Diese Zeit ist nicht für Lektionen oder Vorträge gedacht – am besten hält man sich mit Aussagen generell zurück. Stattdessen sollte man dem Kind immer wieder Fragen stellen, und es zum Reden ermutigen. So signalisiert man dem Kind Interesse. Sollte etwas aufkommen, das die Bezugsperson beunruhigt, sollte das nach den zehn Minuten angesprochen werden.

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Eltern scheuen vor dieser Übung manchmal zurück, weil ihnen die Situation künstlich vorkommt. Tatsächlich ist der Sinn der Übung nicht, das Kind und sich selbst auf Stühle zu platzieren, und verzweifelt zu versuchen, eine Konversation herbeizuführen. Aber man kann Aktivitäten wie Spielen oder Basteln als Hilfsmittel benutzen. Studien zeigen, dass Kinder besser kommunizieren, wenn sie sich gleichzeitig physisch betätigen. Das Gespräch fließt leichter, wenn ihr Gehirn gleichzeitig versucht, ein Problem zu lösen. Das Ziel der Aktivitäten sollte einfach sein, und beide, Kind und Bezugsperson, nur so weit beschäftigt halten, dass das Gespräch nicht künstlich wirkt: Dafür eignen sich zum Beispiel Puzzles, einfache Kartenspiele, Malen oder Zeichnen, mit Bauklötzen oder Legos bauen, Modellbau, Backen oder Kochen, Bastelprojekte, Bälle werfen und fangen, Gärtnern, Käfer oder Frösche sammeln oder Kreide malen.

Tiefere Beziehungen aufbauen

Manchmal hilft diese Übung Kindern schon beim ersten Mal, bei anderen dauert es länger. Für gewöhnlich dauert es drei Wochen, bis sich neues Verhalten einspielt: Eine Woche, in der die Kinder gegen die Veränderung ankämpfen, eine zweite, in der sie die Beständigkeit der Veränderung testen und eine dritte, in der sie sich langsam daran gewöhnen.

Wenn Kinder Bindungsprobleme haben, gibt es erst also erst einmal keinen Grund zur Panik. Und leider ist es symptomatisch für unsere Gesellschaft. Was man den Kindern heute trotzdem mitgeben kann, ist die Fähigkeit, Beziehungen aufzubauen, die sie hinterfragen und korrigieren können, indem die Eltern – im Idealfall beide – eine gesunde Bindung mit ihnen eingehen. Auf diese Weise wird die Familie zu einem selbstkorrigierenden System, das die Kinder aufsuchen können, wenn sie Trost und Heilung brauchen. Das stärkt ihre Psyche für die Zukunft: So können sie Probleme selbst lösen lernen, in dem Wissen, dass sie auf ihre Bezugspersonen zurückfallen können, wenn sie Hilfe brauchen.


Der US-amerikanische Autor ist Psychotherapeut mit Schwerpunkt Trauma- und Bindungstheorie, und er ist gläubiger Katholik. Neben Büchern über Psychologie schreibt er auch Science-Fiction- und Abenteuerromane.

Aus dem Englischen von Sally-Jo Durney

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