Der israelische Schriftsteller Amos Oz ist ein streitbarer Geist, dem es vor allem darum geht, Brücken zu schlagen zwischen Religionen und Kulturen. Er ist Mitbegründer und ein herausragender Vertreter der seit 1977 bestehenden Friedensbewegung „Schalom achschaw“ („Frieden jetzt“), die sich für ein gewaltfreies Zusammenleben von Israelis und Palästinensern einsetzt.
In dem Essay-Bändchen „Jesus und Judas. Ein Zwischenruf“, erschienen im Patmos Verlag, geht es ihm um das Verhältnis von Judentum und Christentum, um das, was sie eint und das, was sie trennt. Oz fasst darin die Gedanken seines Vortrags vom 25. Mai 2017 zusammen, den er im Rahmen des Evangelischen Kirchentags in Berlin im dortigen „Zentrum Christen und Juden“ hielt.
Es geht ihm um die Frage, wer eigentlich Jesus für sich beanspruchen darf – das Judentum – Jesus ist nach seiner Herkunft zweifellos Jude – oder das Christentum – Jesus ist Christus, Sohn Gottes, der etwas ganz Neues in die Welt bringt. Der humorvolle Oz löst den Konflikt – zugunsten des Judentums: Jesus kann kein Christ gewesen sein – er feierte nie Weihnachten. Etwas systematischer begründet der Rabbiner Walter Homolka in seinem ausführlichen Nachwort die Zugehörigkeit Jesu zum Judentum und zeichnet die Geschichte des beidseitigen Anspruchs auf Jesus – und damit auf die Wahrheit – nach. Das Anliegen des Autors ist hingegen weit ernster als es die lockere Diktion und der anekdotenhafte Erzählstil vermuten lassen. Schließlich geht es um nicht weniger als eine Antwort auf die Frage: Wie konnten Judentum und Christentum, die in Jesus Christus, dem Juden, so eng zusammenrücken, das Verbindende derart aus den Augen verlieren? Amos Oz macht dafür die Passionsgeschichte verantwortlich, das schlechte Licht, in das die Erzählung Judas rückt. Ihm ist die Darstellung der Handlungsweise des Judas im Neuen Testament (also: die Rede vom „Verrat“) der Beginn einer unheilvollen zweitausendjährigen Geschichte, das „Tschernobyl des christlichen Antisemitismus“, denn sie „verseucht das Verhältnis zwischen Juden und Christen“. Oz zitiert damit ein wesentliches Motiv des Antijudaismus‘ christlicher Provenienz: die Rede vom Juden als „Christus-“ oder „Gottesmörder“. Er differenziert dann allerdings nicht hinreichend zwischen theologisch gegründetem Antijudaismus der Antike und rassistischem Antisemitismus der Moderne, sondern zieht gewissermaßen eine Linie von Golgatha nach Auschwitz.
Damit übersieht er jedoch die ganz unterschiedliche Stoßrichtung des jeweiligen „Judenhasses“. Anti-jüdische Polemiken christlicher Theologen waren über Jahrhunderte grob, verletzend, unklug – enthielten aber niemals Aufrufe zur Gewalt. Diese trat zwar im Mittelalter in Form verschiedener Pogrome auf, wurde aber nie „von oben“ gesteuert. Die systematische staatliche Verfolgung der Juden im 20. Jahrhundert, zunächst in Russland und dann vor allem im Deutschen Reich und den besetzten Gebieten während der NS-Diktatur, basierte auf sozialer Diskriminierung aus rassistischen Motiven.
Gegen diesen Antisemitismus der Nazis regt sich denn auch vor allem christlicher Widerstand – bis hin zu den Bischöfen und dem Papst. Bereits 1934 erschienen die „Adventspredigten“ von Kardinal Faulhaber, der acht Jahre zuvor in Rom mit über 300 Bischöfen und über 3 000 Priestern das „Opus sacerdotale Amici Israel“ („Priesterliche Vereinigung der Freunde Israels“) gründete, dessen Ziel die christlich-jüdische Versöhnung war. Und Israel Zolli, Oberrabbiner in Rom während des Zweiten Weltkriegs, notiert 1945 in seinem Tagebuch: „Kein Held der Geschichte hat ein tapfereres und stärker bekämpftes Heer angeführt als Pius XII. im Namen der christlichen Nächstenliebe.“ Auch diesen Tatsachen wird Oz mit der Kausalverbindung von Antijudaismus und Antisemitismus nicht gerecht.
Amos Oz stärkt jedoch – ganz auf der Linie jüdischer Theologie des 19. Jahrhunderts – mit seinem Essay das Selbstbewusstsein des Judentums, was wiederum die katholische und evangelische Theologie herausfordert, darauf im Rahmen einer Christologie zu antworten, die Jesus nicht exklusiv für die eigene Konfession beansprucht, sondern der Kirche bewusst macht, in welcher Tradition sie steht: in der Jesu Christi. Das macht den „Zwischenruf“ zu einem Schrei nach Aussöhnung zwischen Christen und Juden.
Amos Oz: Jesus und Judas. Patmos Verlag, Ostfildern 2018, 96 Seiten, ISBN 978-3843610513, EUR 12,-