Münster (DT) Der Einfluss der Katholischen Gesellschaftslehre und der Christlichen Sozialwissenschaften auf die aktuelle Gestaltung von Politik und Wirtschaft scheint heute nicht mehr besonders groß zu sein. Auch die Lehrstühle an den katholischen Fakultäten des Bundesgebietes werden hier und da in Frage gestellt. Nicht so in Münster, wo Franz Hitze den weltweit ersten Lehrstuhl für diese Disziplin 1893 gründete und Joseph Höffner, der spätere Bischof von Münster und Erzbischof von Köln, das Fach von 1951 bis 1962 zu besonderer Blüte führte. Gleich drei neue Bücher, die alle im Paderborner Schöningh-Verlag erschienen sind, befassen sich jetzt mit Franz Hitze, Joseph Höffner und der über 100jährigen Geschichte des Lehrstuhls in Münster. Am Donnerstag wurden sie der Presse vorgestellt.
Wie Professor Karl Gabriel, der heutige Lehrstuhlinhaber für Christliche Sozialwissenschaften, erläuterte, war Franz Hitze nicht nur akademischer Lehrer, sondern auch Politiker. Von Bismarck als „agitierender Kaplan“ diffamiert, habe Hitze sich in der Arbeiterschutzpolitik und bei der Einführung der Sozialversicherungen hohe Verdienste erworben. „Aus der Geschichte der katholischen Arbeiterbewegung und der deutschen Sozialpolitik ist er nicht wegzudenken“, urteilte Gabriel. So sei der Reichstags- und Landtagsabgeordnete unter anderem an der Gründung der christlichen Gewerkschaften beteiligt gewesen. Auch sei ihm eine wegweisende Synthese von politischer Theorie und Praxis zur Lösung der sozialen Frage gelungen. Wie Gabriel ausführte, erinnert das von ihm mitherausgegebene neue Buch nicht nur an Leben, Werk und Wirkung des aus dem Sauerland stammenden Paderborner Priesters, sondern präsentiert auch zentrale Originaltexte des Sozialpolitikers. Damit sei erstmals eine repräsentative Auswahl aus dem Werk Hitzes zugänglich, so Gabriel.
Als einflussreichster katholischer „Soziallehrer“ der Bundesrepublik Deutschland gilt Joseph Höffner, der 1951 das Institut für Christliche Sozialwissenschaften begründete. Am 24. Dezember 1906, in Horhausen/Westerwald geboren, trug der spätere Kardinal und Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz wesentlich zur Grundlegung der sozialen Marktwirtschaft bei. Das Berufungsverfahren, mit dem er von Trier nach Münster geholt werden sollte, zog sich über vier Jahre hin. Höffner führte das Institut aus bescheidenen Anfängen in der noch vom Krieg zerstörten Universität heraus und machte es zur best ausgestatteten Abteilung. Der national wie international hoch angesehene Professor verstand es in hohem Maße, Drittmittel einzuwerben. Seine Beratungstätigkeit in Politik, Wirtschaft und Kirche war legendär. Wissenschaft betrieb Höffner stets mit engem Bezug zur wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Praxis. So gewann der souveräne Kirchenmann und Sozialgelehrte entscheidenden Einfluss auf die Politik der deutschen Nachkriegszeit, insbesondere auf Bundeskanzler Konrad Adenauer. Wie Gabriel erläuterte, widmet das ebenfalls von ihm mitherausgegebene neue Buch sich dem Leben und Werk Höffners vor allem im Hinblick auf seine Beiträge zur Sozialethik und Sozialpolitik, Daneben biete es eine repräsentative Auswahl seiner zentralen Texte aus den 50er und 60er Jahren.
In einem weiteren, ebenfalls im Schöningh-Verlag erschienen Buch stellt Professor Manfred Hermanns von der Hochschule für Angewandte Wissenschaften in Hamburg Persönlichkeiten, Forschungen und Wirkungen des Lehrstuhls für Christliche Gesellschaftslehre und des Instituts für Christliche Sozialwissenschaften der Universität Münster zwischen 1893 und 1997 vor. Auch er befasst sich ausführlich mit Franz Hitze und Joseph Höffner, aber auch mit den drei anderen Lehrstuhlinhabern Heinrich Weber (1922–35 und 1945/46), Wilhelm Weber (1964-83) und Franz Furger (1987–97). Während Heinrich Weber, der Nachfolger Hitzes, die theoretischen Grundlagen für die Caritaswissenschaft gelegt habe, sei es seinem Namensvetter Wilhelm Weber in einer Umbruchszeit um die Errichtung eines Bollwerks gegen den Wandel in Gesellschaft, Staat und Wirtschaft gegangen, unterstrich Hermanns. Nicht weniger als ein Drittel seiner Veröffentlichungen habe er deshalb dem Disput mit dem Marxismus und Sozialismus gewidmet. Ganz anders dagegen Franz Furger, der die christlichen Sozialwissenschaften als „Moraltheologie der gesellschaftlichen Belange“ verstand und Brücken zur politischen Theologie und Theologie der Befreiung sowie zur katholischen Sozialethik schlug. „Die fünf Lehrstuhlinhaber bewiesen in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit ihrer jeweiligen Zeit Kontinuität in den Grundlagen christlicher Sozialethik und in der praktischen Weltgestaltung aus dem Glauben“, lautete das Fazit von Autor Hermanns. „Von diesem Lehrstuhl gingen entscheidende Impulse für Reformen in Politik und Kirche aus.“ Wie Professor Gabriel hinzufügte, soll diese Erfolgsgeschichte in Zukunft fortgeschrieben werden, denn der Lehrstuhl sei fest an der Universität Münster verankert und werde dort hochgeschätzt. Gabriel räumte aber ein, dass die katholische Soziallehre an Bedeutung in der Gesellschaft eingebüßt habe. „Wir stehen unter einem Ökonomisierungsdruck wie nie zuvor“, meinte Gabriel, „aber der Höhepunkt des Neoliberalismus ist überschritten. Ich sehe wieder Chancen für eine neue soziale Balance.“