Nichts ist so alt wie die Zeitung von gestern“, besagt ein Sprichwort. In einer Zeit, in der die Nachrichtenzyklen immer kürzer werden, und die Neuigkeit so oft im Vordergrund steht, ist es ein Wagnis, Zeitungstexte, die vor fast zwanzig Jahren erschienen sind, als Buch zu veröffentlichen. Eben dies hat jedoch der ehemalige Korrespondent der Tageszeitung „Die Welt“ in Jerusalem, Paul Badde, in seinem im Fe-Medienverlag erschienenen Buch „Jerusalem. Hauptstadt der Welt in Tagen des Zorns“ gewagt, die sich seiner Einschätzung nach „fast wie ein Entwicklungsroman und ein deutsches Lehrbuch“ lesen lassen, für das er 60 Reportagen als „Zeitdokumente jener historischen Schlüsseljahre“ ausgewählt hat. Als er im Januar 2000 in Jerusalem ankam, wehte ein zarter Wind trügerischer Hoffnung durch die Straßen des Landes. Unter dem damaligen Premierminister Ehud Barak gab es Friedensverhandlungen zwischen Syrien und Israel, die scheiterten. Die Israelischen Streitkräfte zogen sich nach 22 Jahren aus der im Süden Libanons errichteten „Sicherheitszone“ zurück. Die Friedensverhandlungen zwischen Israel und der Palästinensischen Autonomiebehörde unter der Vermittlung des amerikanischen Präsidenten Bill Clinton kollabierten im Camp David. Und der Besuch des damaligen israelischen Oppositionsführers und späteren Premierministers Ariel Sharon auf dem Tempelberg entfachte die Zweite Intifada, die alle Hoffnungen auf den in Oslo angestoßenen Friedensprozess beendete und bis 2005 das Leben der Israelis und Palästinenser in immer neuen Wellen der Gewalt bestimmte. Als Paul Badde am 6. Februar 2002 Jerusalem verlässt, ist der blutige Konflikt Teil der Tagesordnung. Am selben Tag werden im Westjordanland eine Mutter und ihre elfjährige Tochter von einem als israelischen Soldaten verkleideten bewaffneten Terroristen ermordet – Fatah und Hamas bekennen sich später zu diesem Terroranschlag. 1 036 Israelis und 3 592 Palästinenser wurden während der Zweiten Intifada getötet. In diesen Tagen wurde die Hoffnung auf Frieden zwischen Israel und Palästina zwar nicht zu Grabe getragen, aber in ein Koma versetzt – und es ist fraglich, ob diese Hoffnung je wieder entbrennen wird.
Paul Baddes kurzer Blick, im Vorwort seines Buches, auf Jerusalem in der Gegenwart als eine Stadt, „deren kosmische Probleme offenkundig keine realistischen menschlichen Lösungen kennen“, weckt beim Lesen den Wunsch, seine Gedanken zur heutigen Situation im Nahen Osten aufgrund der damals gemachten Erfahrungen des Journalisten kennenzulernen. Aber der Blick des Lesers wird zurück in die Jahre 2000 bis 2002 gelenkt.
Und derjenige Leser, der Hintergrundanalysen der damaligen Politik erwartet, wird enttäuscht. Die Reportagen bieten keine grundlegende Darstellung, wie es zur zweiten Intifada kam und warum die israelischen und palästinensischen Politiker gnadenlos aneinander scheiterten. Seine Reportagen sind tiefe Einblick in die Lebenswirklichkeiten auf beiden Seiten des Konflikts, die bis heute das Heilige Land und seine Menschen prägen. Der Leser begegnet sowohl Israelis als auch Palästinensern mitten im Konflikt, ohne große politische oder diplomatische Theorien – und man sieht deren zerrissenen Alltag aus der Perspektive eines Autors, der weder seine eigene Meinung zurückhält oder seine christliche Überzeugung versteckt, noch seine Sprache der damaligen Gewalt anpasste.
Das Buch ist eine Sammlung von theologischen Gedanken und journalistischen Beobachtungen, die durch ihren Erzähler wie ein Episodenroman wirken, der immer neue Bilder der damaligen Realität vor den Augen der Leser malt: „Hier ist der Berg der Himmelfahrt. Wie flatternde Vögel kommen Steine durch den kristallenen Himmel geflogen, dazwischen richtige Spatzen, Schwalben, Krähen, Tauben und manchmal Feuervögel mit langem Flammenschwanz: hochgeschleuderte Molotow-Cocktails, von denen die meisten als brennende Lache mitten auf der Kreuzung landen.“ Egal, ob die Texte von dem Papst-Besuch berichten, die Szenerie eines Terroranschlags oder eines palästinensischen Dorfes während eines israelischen Angriffes beschreiben, egal, ob der Großmufti Jerusalems mit seinen antijüdischen Äußerungen zu Wort kommt oder ein jüdischer Siedler sein Weltbild entfalten darf, so spricht doch aus den in diesem Buch versammelten Texten sowohl die Ahnung, dass „Angst und Furcht den Frieden besiegt haben“, als auch die Gewissheit, was Jerusalem und das Heilige Land bedeuten: „der Reichtum vieler Völker und Traditionen, ein Mosaik spannendster Gegensätze, ein Konzert hunderter Widersprüche. Die Muezzine, die Glocken, die Sabbatsirene. Leben! Leben! Leben!“
In dieses Leben, mit seinen Hoffnungen und Abgründen in den Jahren 2000 bis 2002 lässt Paul Badde mit seinem Buch die Leser eintauchen.
Paul Badde: „Jerusalem. Hauptstadt der Welt in Tagen des Zorns“.
fe-Medienverlag, Kisslegg 2018,
247 Seiten, gebunden, ISBN-13: 978-3-86357217-4, EUR 16,95