In Johannes Paul II. begegnet uns einer der größten Zeugen gelebter Heiligkeit. Ich habe es selbst erfahren. Als Kardinal Pericle Felci am 16. Oktober 1978 das "Habemus Papam" von Karol Wojtyla verkündete, begann sich mein Leben zu wenden. Die Dynamik des neuen jungen Papstes faszinierte mich; für einen fünfzehnjährigen Teenager war es auch eindrucksvoll, dass da ein katholischer Papst weit mehr Menschenmassen als die berühmtesten Popstars mobilisieren konnte. Der Papst hatte eine klare Botschaft sowohl was Glauben als auch die Moral betraf. Diese Provokation tat mir gut, sie forderte mich heraus, eine Entscheidung zu treffen: Will ich wirklich glauben? Oder muss ich diesen Glauben ablehnen? Oder gebe ich mich mit einem Christentum zufrieden, das bloß die kulturelle und traditionelle Behübschung meines Lebens ist? Ohne Karol Wojtyla hätte ich mich sicher nicht für den Glauben entschieden!
Darum habe ich drei Jahre später, als ich in das Stift Heiligenkreuz eintrat, den Abt gebeten, mir den Ordensnamen "Karl" zu geben. Hier meine sieben Punkte, die wir von Johannes Paul II. lernen sollten, um heilig zu werden.
1. Lass Dich Sancti admirandi sed non imitandi sunt!
Man soll Heilige bewundern, aber man soll sie nicht in allem nachahmen." Kopierversuche sind sogar gefährlich, denn das Wesen der Heiligkeit besteht darin, dass die Gnade Gottes auf verschiedene Weise unter verschiedenen Umständen auf verschiedene Menschen- und Charaktertypen fällt. Heilige sind gnadenhafte "Ausgestaltungen" Christi in der jeweiligen Zeit, natürlich unter Mitwirkung des Menschen. Sie sind personale Christusikonen. Die Biographie von Johannes Paul ist eine Jahrhundertbiographie, völlig unnachahmlich, staunenswert, gigantisch! Jung verwaist, unterdrückt und konfrontiert mit zwei tödlichen totalitären Regimen, schauspielerisch begabt, mystisch veranlagt, intellektuell neugierig, sehr jung Bischof, als Papst aus einem Land stammend, wo sich eine katholische Arbeiterbewegung gegen ein totalitäres Regime entwickeln wird diese Verknüpfungen sind in sich einzigartig. Das Entscheidende war aber, dass er sich in allen Situationen hat verfügen lassen. Jeder von uns führt sein Leben, ist auf seine Weise in den Koordinaten von Raum und Zeit, hat seine spezifischen charakterlichen, familiären, spirituellen, intellektuellen ... Voraussetzungen. Johannes Paul hat sich in seinen jeweiligen Lebensstationen von Gott verfügen lassen. Dies wurde bei seinem besonderen Sterben, das nur als eine göttliche Inszenierung verstanden werden kann, sichtbar. Bis in die letzten Augenblicke seines Lebens war er die Personifikation seines Wahlspruches: "Totus tuus, ganz dein!"
2. Sei ungeniert mystisch
Johannes Paul hat seine Frömmigkeit nicht verschämt versteckt, im Gegenteil: er hat sie ostentativ gelebt. Er war dabei nie Schauspieler, und selbst seine schlimmsten Feinde haben ihm niemals unterstellt, "Demagoge" zu sein. Er war authentisch in seiner Beziehung zu Gott. Seine Mystik war offensichtlich. Frömmigkeit war für ihn nicht etwas Süßes, Romantisches, sondern die persönliche Beziehung zu Jesus Christus. Sein herumschweifender Blick war immer in sich gekehrt, oder besser: auf einen Punkt in einer anderen, unsichtbaren Welt fixiert. Daraus ergibt sich eine "heilige Unverschämtheit". Wir neigen dazu, immer uns selbst zu bespiegeln, wie wir auf andere wirken. Der heilige Johannes Paul hatte keine Angst, den Glauben zu zeigen, seine religiösen Gesten waren ausdrucksstark und ungeniert, und doch niemals bigotte Frömmelei. Wir brauchen ein inneres Leben in der Beziehung mit Christus, damit für uns nicht mehr die Außenwirkung zum Maßstab unseres Verhaltens wird, sondern zu dem verdämmert, was es für einen Gläubigen sein soll: zu einer Nebensächlichkeit.
Eucharistisch und marianisch sein
setzt auch die Bereitschaft voraus,
zu werden wie die Kinder.
3. Sei eucharistisch und marianisch
Die Eucharistie ist die sakramentale Konkretion des Erlösers und seines Erlösungshandelns: "Deinen Tod o Herr verkünden wir, und deine Auferstehung preisen wir " Ich erlaube mir, trotz der dogmatischen Verschiedenheit der Ebenen, hier auch gleich Maria zu parallelisieren. Denn Maria ist die personale Veranschaulichung sowohl des Gnadenhandelns Gottes als auch unseres menschlichen Mitwirkens. Sie ist sozusagen die konkretisierte Frucht der Erlösung. Die eucharistische und marianische Frömmigkeit Johannes Pauls hatte nie etwas "Überdrehtes" und "Überzuckertes" an sich, sie war immer bodenständig und "männlich". Man glaubte ihm, wenn er die Messe feierte, dass er in einer persönlichen Herzensbeziehung zu Jesus Christus war. Man spürte schon bei seinem ersten Auftritt nach der Wahl am 16. Oktober, als er sich der "Madre di Cristo e della Chiesa", der "Mutter Christi und der Kirche" anempfahl, wie einem warm ums Herz wurde. Der christliche Glaube ist nicht der Glaube an eine Lehre, eine Doktrin, eine Sammlung von Werten und Moralvorstellungen, sondern die Beziehung zu einer Person, Jesus Christus, in der Verbundenheit mit der bereits vollendeten Kirche, den Heiligen. Freilich: Eucharistisch und marianisch sein setzt auch die Bereitschaft voraus, zu werden wie die Kinder. Jesus sagt nicht, dass wir "sein" sollen wie die Kinder, sondern er spricht von einem "werden": Es braucht das Intellektuelle, das Reflexive; aber wer dort verharrt, der wird kalt und steril. Um heilig zu sein, müssen wir aus der theologischen Distanz absteigen in die emotionale Nähe, in die personale Beziehung. Eucharistie und Marienverehrung lehren uns, dass es letztlich in unserem Glauben um "Liebe" geht, denn Liebe geht nur, wenn mein Ich mit einem Du in Beziehung tritt oder besser: Wenn ich mich vom göttlichen Du in ein Wir überführen lasse.
4. Sei mutig und stark
Die Kirche ist seit Jahrzehnten in der Dauerkrise, weil sie einer Welt gegenübersteht, die sich in einem reißenden Strom von Veränderungen befindet. Diese Veränderungen von allem betreffen auch so gut wie alles in der Kirche: die kulturellen und philosophischen Grundlagen, die Wertevorstellung, die moralischen Haltungen, das Verhältnis der Geschlechter zueinander, das Verhältnis des Christentums zu den anderen Religionen und so weiter. In der Kirche ist das Hirtenamt der Bischöfe ein Sakrament; davon wieder ist das Petrusamt eine Aufgabe, die nicht einer organisationsstrategischen Selbstsetzung entspringt, sondern der Einsetzung durch Christus, um seine Kirche "bei ihm", das heißt in seiner Wahrheit zu halten. Deshalb ist es eine wesensimmanente Aufgabe jedes Papstes, "Fels" zu sein (Matthäus 16,18). Johannes Paul hat sich diesem Amt mutig gestellt, auch im Wissen darum, dass er in dieser Funktion weder von außerhalb der Kirche noch von innerhalb nur Applaus und Zustimmung ernten kann. "Leadership" im öffentlichen Bereich zu übernehmen, wird oft als Anmaßung, Machtanspruch und Überheblichkeit interpretiert. Doch in der heutigen pluralistischen Welt individualisierter Lebenskonzepte Leadership für etwas so Anachronistisches wie die christliche Offenbarung beziehungsweise die Einheit der Kirche zu übernehmen, das erfordert die Bereitschaft, sich von einigen lieben, von vielen aber hassen zu lassen. Von Johannes Paul II. lernen wir, dass das Haschen nach Beifall niemals Norm unseres Handelns sein darf. Der Gefahr, sich nach dem "Publikum" zu richten, entgehen wir durch den Blick auf Christus und sein Evangelium.
5. Arbeite fleißig und diszipliniert
"Ohne Fleiß kein Preis". Wenn man heilig sein will, dann bedarf es dazu nicht einer Willensentscheidung, sondern vieler. In einem Seligsprechungsverfahren wird ausgelotet, ob ein "heroischer Tugendgrad" vorhanden war. Der Heroismus, der hier gemeint ist, kann in der Bereitschaft zum Blutzeugnis bestehen (auch das haben wir in modifizierter, unblutiger aber dramatischer Weise bei seinem Sterben miterleben dürfen).
Bei Johannes Paul bestand dieses Heldentum aber immer schon in einem äußerst strukturierten Leben aus Arbeit und Pflichterfüllung. Wir haben oft nur den Papst vor Augen, der von Menschenmassen umjubelt wird. Die Augenblicke vor den Massen sind kurz; aber die Arbeitstage einsam am Schreibtisch, beim Studium der Akten, beim Verfassen der Dokumente, in anstrengenden Besprechungen waren lang. Alle Studien über erfolgreiches "Management" besagen, dass es zwar nützlich ist, wenn eine Führungspersönlichkeit "Charisma" besitzt, dass es aber weit wichtiger ist, dass jemand mit frustrationsresistentem Eifer und opferbereiter Disziplin arbeitet. Die Zukunft der Kirche wird uns nicht vom Himmel gebeamt, sie setzt zwar das absolute Vertrauen auf die Gnade durch Gebet und Opfer voraus, aber das "ora" braucht zur Optimierung seiner
Effizienz unbedingt auch das "labora".
6. Setze auf feste Fundamenten und starke Persönlichkeiten
Bei Johannes Paul gab es eine fundamentale theologische Grundoption, die oft übersehen oder ihm abgesprochen wurde: Das war seine Entscheidung für das 2. Vatikanische Konzil. Für ihn konnte es keine Kirche der Zukunft "neben" oder "außer" den Vorgaben des 2. Vatikanums geben. Die Richtung des Konzils war für ihn so programmatisch, dass sich seine erste Enzyklika "Redemptor hominis" von 1979 liest wie eine Aktualisierung der Pastoralkonstitution "Gaudium et spes". Freilich hat Johannes Paul auch Lehre und Intention des Konzils vehement verteidigt, wenn er sie in das Gespinst eines ominösen "nachkonziliaren Geistes" uminterpretiert sah. Er hat die Neuausgabe des Codex Iuris Canonici 1983 und die Herausgabe des Weltkatechismus 1992 als doktrinären Abschluss des 2. Vatikanums verstanden. Ohne Grundentscheidungen für geistige Fundamente kann Heiligkeit nicht wachsen. Dazu passt auch, dass er sich mit "starken" Persönlichkeiten umgeben hat. Menschen mit schwachem Charakter neigen dazu, sich mit noch schwächeren Mitarbeitern zu umgeben. Vom heiligen Johannes Paul können wir das Gegenteil lernen, das man in vielen Beispielen entfalten könnte. Am Augenfälligsten ist dieser Mut, große Persönlichkeiten um sich herum groß sein zu lassen daran, dass er den Erzbischof von München und Freising und vormaligen Tübinger Theologieprofessor in das wichtigste Amt für seinen Petrusdienst geholt hat, Joseph Ratzinger. Es gehört zur Heiligkeit von Führungspersönlichkeiten, dass sie den Mut und die Klugheit haben, starke und talentierte Charaktere um sich in Position zu bringen, um dem Ganzen zu dienen.
Fischer wollen Erfolg in Form von
vollen Netzen und vielen Fischen.
7. Bleibe hungrig
Steve Jobs, der Gründer von Apple, hat auf die Frage nach dem Schlüssel zu seinem Erfolg die berühmte Antwort gegeben: "Stay hungry!" Jesus hat für den Aufbau seiner Kirche Arbeiter aus der Berufsgruppe der Fischer berufen. Fischer wollen Erfolg in Form von vollen Netzen und vielen Fischen. Eine der größten Selbstblockaden der katholischen Kirche im Westen, wo sie deshalb auch dramatisch schrumpft, ist der Mangel an missionarischem Eifer. Uns fehlt weltlich gesprochen der Hunger nach Erfolg. Wobei unser "Erfolg" natürlich nicht in Verkaufszahlen, sondern in einem Zuwachs von Gläubigkeit und Gläubigen zu quantifizieren wäre. Für mich war Johannes Paul II. die personifizierte Sehnsucht des Fischers nach vollen Netzen. Auch die fortschreitende Lähmung seines Gesichts durch Parkinson konnte nicht verhindern, dass man ihm die Freude ansah, wenn junge Menschen zu den Weltjugendtagen gekommen waren. Mit der heiligen Mutter Teresa teilte er die Menschenfischermentalität. Beide trafen sich in dem "Mich dürstet", das Jesus am Kreuz ausgestoßen hat, und in dem Mutter Teresa den Durst Jesu nach der Rettung aller Menschen ausgedrückt sah. Das "Duc in altum Fahr hinaus auf den See" (Lukas 5,4), mit dem Jesus ja die Fischermentalität seiner zukünftigen Apostel getestet hat, als sie die ganze Nacht nichts gefangen hatten, und sich dann dennoch von Jesus nochmals zum Fischfang ausschicken ließen, ist der Aspekt der Heiligkeit, den wir europäische Kirchenchristen heute am nötigsten brauchen. 1997 war ich mit 120 Jugendlichen beim Weltjugendtag mit Johannes Paul II. in Paris. Mir klingen heute noch die Worte von Kardinal James Francis Stafford in den Ohren, die er an den Papst richtete: "Durch Sie, Heiliger Vater, erkennen wir, was es heißt, einen heiligen Vater zu haben!" Ich setze fort: Durch diesen heiligen Vater werden wir motiviert, selbst heilig werden zu wollen!
Der Autor ist Professor an der Hochschule Heiligenkreuz und Nationaldirektor der Päpstlichen Missionswerke in Österreich
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