Woher stammt der Wahlspruch des Heiligen Vaters „Erwählt aus Erbarmen“?
„Miserando atque eligendo“ ist einer Predigt des Beda Venerabilis (Homilie 21) entnommen. Im Kontext geht es um die Erwählung des Apostels Matthäus nach der Perikope Matthäus 9, 9–13. Der Prediger zitiert gleich zum Anfang Römer 3, 23f: „Alle haben gesündigt und die Herrlichkeit Gottes verloren. Ohne eigenes Zutun werden sie gerecht, dank seiner Gnade“. Und nochmals die unabschätzbare Größe derselben Gnade empfehlend fügt er hinzu aus Römer 5, 20: „Wo aber die Sünde mächtig wurde, wurde die Gnade übermächtig“. Dies also ist der hermeneutische Skopus seiner Auslegung der Perikope über die Berufung des Matthäus und das Mahl Jesu mit den Zöllnern, zusammengefasst in dem anschließenden Satz: „quia nimirum quanto grauiorem dominus in electis suis peccatorum langorem curavit tanto ampliorem cunctis gratiae medentis potentiam monstravit – denn zweifelsohne zeigte der Herr die umfassendere Macht der heilenden Gnade an allen seinen Erwählten, die er (zuvor) von der Schwäche ihrer Sünden heilte“.
Ist das Motiv „erwählt aus Erbarmen“ bei den Kirchenvätern häufiger anzutreffen?
Die Lehre von der Erwählung spielte bereits im Alten Testament eine dominierende Rolle, man denke nur an den Terminus „das auserwählte Volk“ als Synonym für Israel. Im Neuen Testament avanciert diese geradezu zum Schlüssel christlicher Verkündigung beim Apostel Paulus, der speziell mit seinem Römerbrief die frühkirchliche Theologie prägte. Die Kirchenväter – allen voran Augustinus in seinen Bekenntnissen – betrachteten Gottes Erbarmen als den Quell und das Motiv der Erwählung.
Ist das Erbarmen Gottes in den Texten der Kirchenväter ein Synonym für seine Gnade?
Eindeutig ja. Wieder ist es das Alte Testament, das insbesondere in den Psalmen Gottes Erbarmen rühmt. „Erbarme dich meiner, o Gott, nach deinem großen Erbarmen tilge meine Missetaten“, betet der Psalmist 50, 3. Abermals ist es Augustinus, der in seinen Auslegungen des Römerbriefes wiederholt betont, dass die Berufung des Menschen zum Glauben nicht „aus eigenem Entschluss“, sondern „aus Erbarmen“ erfolgt. Weder der Glaube noch die guten Werke sind „ohne die Gnade des Erbarmens Gottes“ möglich, heißt es in seiner wichtigsten Gnadenschrift an Simplicianus (1, 2, 2). Wie die Gnade, so ist auch das Erbarmen Gottes ungeschuldet, sie geht dem guten Handeln des Glaubenden voraus, begleitet und vollendet es.
Wie hat Beda die Perikope über das Mahl Jesu mit dem Zöllner Matthäus gedeutet?
Ganz im Sinne der neutestamentlichen, spezifisch paulinischen und auch von den Kirchenvätern vertretenen christlichen Erwählungslehre. Nach der Perikope folgte der Zöllner keineswegs aus eigenem Antrieb Jesus, sondern aufgrund der Aufforderung Jesu: „Folge mir!“ Stets geht der Nachfolge das Wahrnehmen der irdischen Zustände der zu Erwählenden seitens des sich erbarmenden göttlichen Wählers voraus. Beda zufolge sah Jesus den „nach irdischen Gütern gierenden Zöllner“. Matthäus sollte jedoch nicht „Spender irdischer, sondern himmlischer Talente werden“. „Er (Jesus) nahm den Zöllner wahr, und weil er ihn als Erbarmender und Erwählender wahrnahm, sprach er zu ihm: Folge mir nach!“ Damit ist die Perikope nicht zu Ende. Es folgt ein gemeinsames Mahl: Der sich Erbarmende setzt sich mit dem aus Gnade Erwählten zu einem gemeinsamen Mahl, was den Protest der Pharisäer hervorruft. Die Szene spitzt sich nun zu, und die Antwort Jesu auf die Kritik der Pharisäer setzt die Barmherzigkeit nicht nur seitens Gottes, sondern auch seitens der Erwählten in ein helles Licht: Dass Jesus als Arzt und Heiland gekommen ist, um die Menschen von ihren Schwächen zu heilen, geschah aus Barmherzigkeit. Jesus zitiert deshalb aus dem Propheten Hosea 6, 6: „Barmherzigkeit will ich und nicht Opfer“. Mit Hosea stellt Jesus, so Beda, die Barmherzigkeit höher als das Opfer. In den Religionen spielt die Wertschätzung des Opfers nicht selten die größere Rolle. Dies kritisiert Jesus nach Beda. Und diese Präferenz sollte Christen nachdenklich machen.
Verkörpert der Zöllner Matthäus als materiell reicher, aber zunächst von Gott abgewandt lebender Mensch das Schicksal vieler moderner Menschen?
Die Frage ist gerade im Blick auf die Bibel – es sei lediglich auf den wohlhabenden Abraham, dessen Glaube wiederholt gerühmt wird, hingewiesen – nicht einfach mit Ja oder Nein zu beantworten. Wo und wann immer Menschen nach irdischen Reichtümern so gieren, dass sie die Barmherzigkeit diesen Reichtümern nachsetzen, dort verkörpern sie einen von Gott abgewandten Zöllner. Der entscheidende Aspekt in der Beurteilung der materiellen Güter liegt somit in der Hin- beziehungsweise Abwendung von Gott, und damit in der Hin- beziehungsweise Abwendung von der Barmherzigkeit.
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