Wie auch immer Putins Angriffskrieg auf die Ukraine ausgehen wird, der moralische Sieger steht bereits fest – tot oder lebendig: Er heißt Wolodymyr Selenskyj und ist der Präsident der Ukraine. Denn, was viele nicht für möglich hielten: der 44-jährige Ex-Komiker ist in der gefährlichen Auseinandersetzung mit den Truppen des russischen Diktators über sich selbst hinausgewachsen. Unvergessen, wenn nicht bereits historisch ist sein Ausspruch, mit dem er zu Beginn der Invasion das US-Fluchtangebot ausschlug: „Ich brauche Munition, keine Mitfahrgelegenheit.“ Das ist der Stoff, aus dem Helden sind. Nicht nur auf der Leinwand, auch in der Realpolitik.
Immer präsent
Seitdem vergeht kein Tag, an dem der verheiratete Vater von zwei Kindern nicht die Weltöffentlichkeit mit empathischen Social Media-Aufnahmen und klugen politischen Schachzügen überrascht: Ein Telefonat mit Papst Franziskus, ein Dankeschön an Kanzler Scholz für die Kehrtwende bei Waffenlieferungen, schließlich die Unterzeichnung eines EU-Beitrittgesuchs – Selenskyj führt die geschundene Nation im Angesicht der Gefahr wie ein Virtuose.Mit ruhiger Stimme, schelmischem Lächeln, coolem Military-T-Shirt. Ein echter Leader. Frei nach der biblischen David-und-Goliath-Story oder dem antiken Sparta-gegen-die-Perser-Klassiker kann der vermeintliche Underdog doch zu großer Form auflaufen.
Das tut Selenskyj gewiss, während Wladimir Putin im Kreml immer älter und hilfloser wirkt. Doch wird dieser Schein des Erfolgs auf Dauer genügen? Natürlich weiß Selenskyj als Sohn eines Kybernetik-Professors und einer Ingenieurin, der vor seiner TV- und Film-Karriere Jura studierte, dass die Architektonik der Macht nicht nur von selbstbewussten Sprüchen und berührenden Bildern gestaltet wird.
Ein echter Leader
Viel wird davon abhängen, ob die ukrainischen Soldaten und Kämpfer die gerade wieder aufgestockten Truppen der Angreifer tatsächlich militärisch aufhalten und besiegen können, was bei allem heroischen Kampfeswillen der Ukrainer einige mittelprächtige Wunder verlangt. Doch mit Wundern kennt sich Selenskyj, der aus einer jüdischen Familie stammt, bestens aus. Drei Brüder seines Großvaters starben im Holocaust – der Großvater überlebte.
Kommt daher Selenskyjs beeindruckender Mut? Seine Entschlossenheit, demokratische Ideale und Werte wirklich zu leben? Für die Unabhängigkeit von Russland im Ernstfall sogar sein Leben zu geben? In einem Zeitalter, in dem Diktatoren und blasse Polit-Technokraten für Angst und Verdrossenheit sorgen, setzt Selenskyj einen beeindruckenden Gegenakzent.
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