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Wie geht es weiter in Nahost?

Die Geiseln sind frei, es herrscht Waffenstillstand in Gaza. Nun beginnt die „zweite Phase“ von Donald Trumps 20-Punkte-Plan. Sie könnte scheitern, noch ehe sie so richtig begonnen hat.
Freude über Geiselfreilassung in Israel
Foto: IMAGO/Ilan Rosenberg (www.imago-images.de) | Die Angehörigen der nun freigelassenen Geiseln, die Abgeordneten in der Knesset und weite Teile der israelischen Gesellschaft begrüßten US-Präsident Donald Trump am Montag mit großer Dankbarkeit.

Der Tag der Geiselbefreiung war ein Tag der Erleichterung und ein Tag, der vieles verändert. Was sich für einen Moment wie ein Durchbruch anfühlte, könnte sich schon bald als Beginn der eigentlichen Herausforderungen entpuppen. Denn mit der Freilassung der letzten Geiseln rücken all die ungelösten Fragen in den Mittelpunkt, die im Hintergrund schwelen, seit Donald Trump seinen 20-Punkte-Plan zur Lösung des Gaza-Konflikts vorgestellt hat.

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Was zunächst wie ein pragmatischer Friedensentwurf wirkte, ist nun der Prüfstein für alle Beteiligten: für Israel, für die Palästinenser, für die Region, für die internationale Gemeinschaft. Und vor allem für das politische Erbe Trumps, der diesen Plan mit markiger Rhetorik, großem Selbstbewusstsein und einem globalen Vermittlungsanspruch zu einem persönlichen Projekt gemacht hat. Doch genau darin liegt die Problematik. Denn jetzt, da das erste Ziel – die Geiselfrage – gelöst ist, zeigen sich die Risse im Fundament dieses Plans umso deutlicher.

Fehlender Konsens über die Legitimität des geplanten Übergangsregimes

Einer der zentralen Schwachpunkte liegt im fehlenden Konsens über die Legitimität des geplanten Übergangsregimes. Gaza soll künftig von einem technokratischen Komitee verwaltet werden, überwacht von einem internationalen Gremium unter Beteiligung der USA und anderer westlicher Staaten. Doch wer repräsentiert dieses Komitee wirklich? Wer gibt ihm das Mandat? Für viele Palästinenser in Gaza ist die Hamas trotz ihrer brutalen Methoden nicht nur eine bewaffnete Organisation, sondern immer noch eine politische Vertretung. Wenn sie vollständig entmachtet werden soll, stellt sich die Frage, wie die Machtlücke gefüllt werden kann. Die Palästinensische Autonomiebehörde ist seit Jahren politisch geschwächt und in Gaza kaum präsent. Ihr plötzliches Wiederauftauchen, ohne breite Unterstützung in der Bevölkerung, birgt die Gefahr neuer Spannungen. Der Plan setzt voraus, dass alle politischen Gegensätze kurzfristig beigelegt werden können, doch genau das scheint derzeit utopisch.

Gleichzeitig ist auch auf israelischer Seite der Konsens über das weitere Vorgehen brüchig. Premierminister Netanjahu steht unter massivem innenpolitischem Druck: von rechts, aber auch durch die Familien der Geiseln, die ihm lange Tatenlosigkeit vorwarfen. Die radikalen Kräfte in seiner Koalition betrachten jede Form von Konzessionen an die Palästinenser als sicherheitspolitisches Risiko oder sogar als Verrat. In dieser Lage einen geordneten, vollständigen Rückzug aus Teilen des Gazastreifens zu organisieren, wie es der Plan vorsieht, scheint politisch kaum durchsetzbar. Zu tief sitzt das Misstrauen gegenüber der Hamas, zu groß ist die Angst vor erneuten Angriffen. Und doch: Ohne Rückzug wird es keinen Aufbau geben. Und ohne Aufbau keinen Frieden. Die Frage ist, wie viel Druck Donald Trump aufrechterhalten wird.

Wie kann die Entmachtung der Hamas gelingen?

Ein weiteres Kernproblem ist die Frage der Sicherheitsgarantien. Der Plan fordert die vollständige Demilitarisierung der Hamas, faktisch also ihre Entwaffnung und politische Entmachtung. Doch wie soll das gelingen, ohne eine neue Eskalation zu provozieren? Und wer kann oder darf das durchsetzen? Ein internationaler Militäreinsatz ist weder realistisch noch politisch gewollt. Eine freiwillige Entwaffnung der Hamas erscheint ebenfalls unwahrscheinlich, solange keine klaren Perspektiven für politische Teilhabe oder territoriale Selbstbestimmung geboten werden – jenseits der Hamas natürlich.

Hinzu kommt der Faktor Zeit. Der Plan enthält kaum konkrete Fristen oder klar definierte Etappen. Stattdessen setzt er auf einen schrittweisen Übergang mit unbestimmter Dauer. Doch gerade in dieser Unverbindlichkeit liegt eine große Gefahr: Jeder Schritt, der ausbleibt oder verzögert wird, kann das fragile Gleichgewicht kippen. Wenn Hilfen zu spät ankommen, wenn der Wiederaufbau blockiert wird, wenn politische Prozesse nicht zügig anlaufen, wächst das Misstrauen auf allen Seiten. Doch aus Misstrauen wird schnell Ablehnung. Die Hamas könnte sich dadurch in ihrer Haltung bestätigt sehen, Israel könnte erneut zur militärischen Karte greifen. Der Kreislauf der Gewalt wäre wieder geöffnet, noch bevor der Plan überhaupt seine zweite Phase erreicht hat.

Auch international ist der Rückhalt für Trumps Friedensvision ambivalent. Zwar haben einige Golfstaaten und westliche Partner Unterstützung signalisiert, doch eher zögerlich, meist ohne konkrete Zusagen. Viele Staaten befürchten, in ein Projekt eingebunden zu werden, das primär den Interessen der USA oder Israels dient, ohne langfristig tragfähig zu sein. Das Vertrauen in Trump als Vermittler ist bei vielen Akteuren gering. Sein Image als polarisierender Machtpolitiker, der sich in der Vergangenheit selten durch diplomatisches Fingerspitzengefühl hervorgetan hat, wirkt nicht gerade vertrauensfördernd. Selbst wenn er mit guten Absichten agiert – der politische Ballast seiner bisherigen Amtszeiten erschwert es, breite Zustimmung zu generieren, vor allem bei den Europäern.

Wer finanziert den Wiederaufbau von Gaza?

Parallel dazu drohen neue humanitäre Katastrophen. Gaza ist schwer zerstört. Strom, Wasser, medizinische Versorgung: all das liegt in Trümmern. Der Wiederaufbau wird Jahre dauern und Milliarden kosten. Doch diese Mittel müssen erst zugesagt, freigegeben und abgesichert werden. Wenn sie ausbleiben, weil die Sicherheitslage unsicher bleibt oder politische Konflikte blockieren, dann wächst nicht nur der Unmut, sondern auch das Risiko der Radikalisierung. Wer in Ruinen lebt, wird kaum Vertrauen in politische Friedensprozesse entwickeln.

Trotz all dieser Herausforderungen bleibt die Freilassung der Geiseln ein Signal: dass selbst im tiefsten Konflikt noch Bewegung möglich ist. Dass Dialog, so begrenzt er auch sein mag, Wirkung entfalten kann. Dass Verhandlung nicht gleichbedeutend mit Schwäche ist. Doch ein Tag der Freude macht noch keinen Frieden. Echte Versöhnung braucht mehr: Gerechtigkeit, Teilhabe, Sicherheit – und vor allem eine neue Erzählung. Solange sich beide Seiten weiterhin nur als Opfer und Gegner sehen, bleibt der politische Boden unfruchtbar. Erst wenn Anerkennung auf beiden Seiten möglich wird – nicht nur in diplomatischen Texten, sondern im realen Umgang –, kann aus einem Waffenstillstand ein echter Neuanfang werden.

Der Trump-Plan ist in seiner jetzigen Form kein Friedensvertrag, sondern ein Rahmen: offen, vage, konfliktträchtig. Er bietet eine Bühne, aber kein Drehbuch. Ob daraus ein historisches Projekt wird oder ein weiteres gescheitertes Kapitel in der langen Geschichte dieses Konflikts, das hängt nicht nur von politischen Führern ab, sondern auch von den Menschen, die bereit sein müssen, Frieden nicht nur zu fordern, sondern ihn auch zu tragen. Mit aller Geduld, allen Widersprüchen, allen offenen Wunden. Der Weg dorthin ist lang, steinig, vor allem, da viele ihn auf allen Seiten für unmöglich halten. Und die ersten Schwierigkeiten zeigten sich bereits am Montag: Anders als versprochen, übergab die Hamas nur vier von 28 Leichnamen getöteter Geiseln und kündigte an, den Kampf gegen Israel auf alle Fälle fortzusetzen. Und der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoan drohte, er werde nicht zum Gipfeltreffen mit Trump und anderen arabischen Führern in Sharm el-Sheikh kommen, wenn auch Benjamin Netanjahu käme. Das wollte zunächst Trump. Die Zeichen stehen also schon jetzt auf Sturm.


Der Autor war Israel-Korrespondent der ARD, ist Buchautor und Journalist.

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