Eigentlich stünden die Chancen der Alternative für Deutschland (AfD) gut, sich in schwierigen Coronazeiten als oppositionelle Kraft zu profilieren. Die Ängste sind in der Bevölkerung verbreitet – auf diesem Humus entstehen Verschwörungsmythen wie berechtigte und unberechtigte Kritik am bestehenden Kurs der Regierung. Doch die Partei fechtet Diadochenkämpfe aus, ihre Bundessprecher, Jörg Meuthen und Tino Chrupalla, sprechen ganz offen von „Selbstzerfleischung“. Nicht nur das: Machtkämpfe in den Landesverbänden sind offen aufgebrochen, von Süd nach Nord, von Bayern bis Schleswig-Holstein.
Der Streit dreht sich um den "Flügel"
Der Streit dreht sich um einen wichtiger Pfeiler im Innenleben der Partei, den sogenannten „Flügel“. Stein des Anstoßes: Im März 2020 hat das Bundesamt für Verfassungsschutz über diesen ein 258-seitiges Gutachten intern veröffentlicht. Es sieht im Flügel eine „erwiesen extremistische Bestrebung“. Als Folge ist dieser offiziell aufgelöst. Nun setzte ein Hauen und Stechen ein, da der Bundesvorstand am 15. Mai einem ihrer wichtigsten Vertreter die Mitgliedschaft entzogen hat: Andreas Kalbitz, Landes- und Fraktionsvorsitzender in Brandenburg. Er ist erfolgreicher Wahlkämpfer, führte die Partei auf 23,5 Prozent und damit auf Platz zwei. Vor allem repräsentiert er neben Björn Höcke den radikalen Teil der Partei. Kalbitz stolperte über die Seiten 228 und 229 im Bericht, der einen offenen Verstoß gegen den Unvereinbarkeitsbeschluss der Partei (oder früher die Angabe von früheren Mitgliedschaften) darstellt.
Schon lange wurde über seine Vergangenheit, auch medial, gemunkelt. Nun schreibt der Verfassungsschutz: „Kalbitz unterhielt jahrelang bis unmittelbar vor seinem Eintritt in die AfD Beziehungen zum organisierten Rechtsextremismus. Nachweislich stand Kalbitz über mindestens 14 Jahre in Kontakt mit dem im Jahr 2009 verbotenen rechtsextremistischen Verein ,Heimattreue Deutsche Jugend (HDJ)‘ und war dort Mitglied.“ Das steht im diametralen Widerspruch zu den eigenen Aussagen: Kalbitz hat etwa im August 2019 erklärt, weder er noch seine Kinder hätten sich an HDJ-Lagern beteiligt. Nun liegen aber „Erkenntnisse in Form einer Mitgliedsliste (Stand 2007) vor, in der unter der Mitgliedsnummer 01330 die „Familie Kalbitz“ genannt wird. Der Bericht spricht von „anhaltenden Falschaussagen“. Kalbitz hatte seinen Mitgliedschaftsantrag 2013 im Internet gestellt, er soll nach Angaben aus der AfD nicht auffindbar sein. Nun sind die Fronten verhärtet: Intern und extern wird über einen Sonderparteitag diskutiert, über eine Parteispaltung wird gesprochen. Einfach wird ein Bruch nicht werden: Kalbitz selbst wurde als Fraktionsvorsitzender bestätigt. Folgende vier Szenarien stehen im Raum.
Szenario eins: Sieg der „Gemäßigten“ um Jörg Meuthen
Ist nun Anlass für eine „Reinigung“? Dafür spricht das Votum des Bundesvorstands. Im Hintergrund steht, dass Leute um Jörg Meuthen eine weitere Radikalisierung vermeiden wollen. Die Beobachtung durch den Verfassungsschutz könnte eine Mäßigung beschleunigen. Immer wieder sprachen Protagonisten der AfD davon, eine bürgerlich-konservative Alternative formen zu wollen. Das war auch das ursprüngliche Ziel der Parteigründung. Nur dann könnte die Partei einmal in Machtspiele einbezogen werden. „Thüringen“, als der Kurzzeitministerpräsident Thomas Kemmerich mit den Stimmen der AfD gewählt wurde, würde kein Betriebsunfall bleiben. Dagegen spricht aber Szenario zwei.
Szenario zwei: Machtübernahme des „Flügels“
Dem Flügel dürften nach Recherchen etwa ein Drittel der Parteimitglieder angehören. Der Verfassungsschutz bezieht sich auf die Eigenaussage von Co-Bundessprecher Jörg Meuthen, der das Personenpotenzial auf 20 bis 30 Prozent schätzt. Björn Höcke geht davon aus, 40 Prozent der Delegierten hinter sich zu haben. Nimmt man den niedrigen Wert von 20 Prozent an, macht das bei rund 35.000 Mitgliedern 7.000 Personen – eine beträchtliche Zahl, die es wenig wahrscheinlich macht, sich der radikalen Teile einfach zu „entledigen“. Kalbitz wurde selbst in Brandenburg als Fraktionsvorsitzender bestätigt. Höcke hat den Landesverband Thüringen fest hinter sich. Der Flügel will also „kämpfen“ und versuchen, die Macht zu übernehmen. Er könnte eine „AfD Ost“ gründen, zumal die Landesverbände von Sachsen und Sachsen-Anhalt Kalbitz und die Linie von Brandenburg und Thüringen offen unterstützen. Falls es im April 2021 wirklich zur Neuwahl in Thüringen kommt, könnte Höcke den Testfall ausrufen und mit eigener Partei antreten.
Auch im Westen gibt es Anhänger des Flügels. Im Mai 2020 verschickte der Landesvorstand eine Mail, in dem ohne inhaltliche Distanzierung ein Schreiben von dem Ex-AfD Mitglied Doris von Sayn-Wittgenstein zitiert wird, die dem Flügel nahe steht. Sie wäre auf dem Parteitag Ende 2017 in Hannover fast zur Co-Bundesvorsitzenden gewählt worden. Eine einzige Stimme fehlte ihr beim ersten Wahlgang. Ihr offizielles Ende bei der AfD resultierte darin, dass sie für die Mitgliedschaft in einem offen rechtsextremen Verein, „der Holocaust-Leugnern offensteht“, geworben hatte. In Personen wie Alexander Gauland und Alice Weidel hat der Flügel mächtige Fürsprecher, die sich von der Entscheidung des Bundesvorstands bitter enttäuscht zeigten. Auch Tino Chrupalla spricht von einem „Fehler“. Falls Kalbitz etwa seine Mitgliedschaft auf juristischem Wege wiedererlangt, was einige Parteienrechtler durchaus für möglich halten, wäre Jörg Meuthen am Ende. Eine Machtübernahme des einstigen Flügels wäre dann möglich.
Szenario drei: Parteispaltung
Dafür spricht die noch junge Geschichte der Partei: Als die einstigen Vorsitzenden Bernd Lucke und Frauke Petry die AfD verließen, gründeten sie, wenig erfolgreich, jeweils neue Parteien. Björn Höcke hat zwar angekündigt, das zu unterlassen, doch könnte sich das bei der Gemenge- und Gefechtslage schnell ändern. Der „Flügel“ war als „Solidargemeinschaft“ unter anderem mit einem Fanshop gut organisiert und verfügt mit Björn Höcke über ein Idol, aber nun auch mit Andreas Kalbitz über einen Märtyrer und hat mit Jörg Meuthen ein zentrales Feindbild. Eine Spaltung dürfte die Partei aber massiv schwächen, wie auch die Geschichte von anderen konservativen und radikalen Parteien in der Bundesrepublik zeigt. Schon machen sich in einigen Landesverbänden gerade im Westen Auflösungserscheinungen bemerkbar. Falls es wirklich zu einer Spaltung kommen würde, wäre ein Rosenkrieg vorprogrammiert.
Szenario vier: „Aussitzen des Problems“ durch Wahlerfolge
Theoretisch könnte sich das Problem immer noch von selbst lösen. Auch wenn die AfD bislang nicht von der Coronakrise profitieren kann, wie auch die Umfragen zeigen, kann sich das Blatt auch wieder wenden. Lange hatte sie keine Strategie, doch die Gelegenheit bleibt weiter günstig: Schließlich wird die Krise andauern und könnte zu einer Systemkrise werden. Die AfD könnte sich als „Bewegungspartei“ an die Spitze der Coronademonstrationen stellen. Erfolge nach außen hin könnten die internen Reibereien übertünchen. Jörg Meuthen spricht jetzt schon von „Überreaktionen“ und könnte auf seine Kritiker zugehen. Die AfD könnte das Problem einfach aussitzen und zu einem Fall „Sarrazin“ deklarieren.
Wer die Szenarien genauer betrachtet, kommt nur zu einem Schluss: Die AfD wird in absehbarer Zeit nicht zu einer ideologisch homogenen Partei werden. Daran würde wohl selbst eine Spaltung einer Partei nichts ändern. Eine schnelle Lösung der internen Probleme scheint wenig wahrscheinlich. Die AfD wird dennoch mit hoher Wahrscheinlichkeit im nächsten Deutschen Bundestag sitzen.
Der Autor ist Politikwissenschaftler und Publizist
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