Es gibt viele Fragen, die der Krieg in der Ukraine zum Vorschein bringt. Eine Christen-Generation, die es gelernt hat, bei Unglücken „Es wird alles gut“ auf bunte Banner zu schreiben und Kerzen in die Fenster zu stellen, erlebt mit verblüfftem Schrecken, dass man auch unterscheiden muss. Dass es historische Wendemarken gibt, die ein Urteil verlangen. Und dass man dieses Urteil nur fällen kann, wenn man weiß, wo man selber steht.
Putin zwingt zur Entscheidung
Das war bei Corona und der Flutkatastrophe im Ahrtal anders. Da war vielleicht zu entscheiden, ob man sich impfen lässt oder wie man wieder zu den vier Wänden eines sicheren Heimes kommt. Aber weder hinter der Epidemie noch dem Hochwasser stand eine menschliche Intelligenz, die entschieden hatte, Millionen von Menschen leiden zu lassen, um ein bestimmtes Ziel zu erreichen. Das ist bei Wladimir Putin anders. Er hat der Freiheit und dem Selbstbestimmungsrecht der Völker den Kampf angesagt.
Da sitzt ein Mann im Kreml, der hat eine Idee. Ja, einen Wert: ein großrussisches Reich, mit Russland, Belarus und der Ukraine. Dieses Reich soll wieder ein respektierter und von keinem westlichen Bündnis bedrängter „global player“ werden – so wie es die Sowjetunion war, deren Untergang für Putin die größte politische Katastrophe des vergangenen Jahrhunderts gewesen ist. Diese Katastrophe will Putin – der bald 70 Jahre alt wird – reparieren, es soll sein Lebenswerk sein. Dafür hat er bisher 12.000 russische Soldaten in den Tod geschickt. Von den Opfern der heldenhaften Ukrainer ganz zu schweigen.
Man kann sich gegen Putin weder impfen lassen noch Regenrückhaltebecken bauen – man muss sich entscheiden: Sind die Werte und Ideen, wegen denen Putin Europa und den Westen in einen Krieg verwickelt, richtig oder falsch? Und wenn sie falsch sind, welches sind die eigenen Werte, die man dem russischen Diktator entgegenhält? Und wenn dies Freiheit, Solidarität und der Respekt vor dem anderen als einem Abbild Gottes sind, ist man dann auch bereit, zu diesen Werten zu stehen, sie zu verteidigen und für sie Opfer zu bringen?
Der Westen verlernt, seine Werte zu kennen
Putin scheint erkannt zu haben, dass es der Westen mehr und mehr verlernt, seine Werte zu kennen, sie zu schätzen und für sie einzustehen. Seit dem Ende des Kalten Kriegs und der Wende der 1990er Jahre löst sich das Welt- und Menschenbild, das den Westen groß gemacht hat, in einer globalen Welle der Digitalisierung auf. Man genießt und verteilt seine „likes“, so als ob alles gleich gültig und damit gleichgültig sei. Corona hat man – oft eher schlecht als recht – ertragen. Doch bei Putin ist das anders. Er fordert zu einer Entscheidung heraus.
Die Medien berichten über den Krieg wie über eine Auseinandersetzung auf dem Schachbrett. Figuren fallen und Flüchtlinge strömen. Es geht um Taktiken, Sanktionen, Verhandlungen und die Lieferung von Waffen. Um die Player im engeren Sinne gruppieren sich Akteure wie China, Israel oder die Türkei. Doch dem Medienkonsumenten kann es passieren, bald mehr als nur ein Zuschauer zu sein. Wenn die Flüchtlinge weiter kommen, die Energiepreise steigen – oder wenn der Krieg eskaliert. Dann sollte man wissen, was die eigenen Werte sind und warum man sie gegen die Ideen des Herrn im Kreml verteidigen muss. Sonst frisst einen die Geschichte, wie sie schon manches Reich weggefressen hat, das im Inneren die Ideale, die Moral und die eigenen Werte verloren hat.
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