Kurz nach Beginn der russischen Großinvasion in der Ukraine am 24. Februar 2022 stellte Kiew einen offiziellen Antrag an die NATO, den ukrainischen Luftraum zu einer Flugverbotszone für russische Flugobjekte zu machen. Tausende ukrainische und pro-ukrainische Medienaktivisten starteten eine weltweite Kampagne zur „Schließung des ukrainischen Luftraums“. Doch die NATO lehnte den Antrag Kiews rasch ab, da sie offensichtlich eine Eskalation zum Dritten Weltkrieg fürchtete.
Was in der hitzigen Debatte über eine gesamtukrainische Flugverbotszone unterging, waren einige nicht-ukrainische nationale Sicherheitsinteressen auf dem Territorium der Ukraine. Die jüngsten russischen Angriffe auf Getreidelager und Häfen an der ukrainischen Schwarzmeer- und Donauküste verdeutlichen dies.
Viele Angriffe zielen auf die zivile Infrastruktur
Die steigenden Weltmarktpreise für Getreide nach den russischen Angriffen sind für die Ukraine weniger problematisch als für Getreide importierenden Länder. Die sozialen, politischen und vielleicht sogar militärischen Auswirkungen steigender Lebensmittelkosten in armen Ländern können weitreichend sein.
Die Mehrzahl der russischen Luftangriffe im Hinterland der Ukraine hat keine rein militärischen Ziele. Viele Angriffe zielen auf die zivile Infrastruktur, um die ukrainische Bevölkerung zu terrorisieren oder zu demoralisieren. Russlands Angriffe auf die ukrainischen Lebensmittelexporte haben zudem den Zweck, die Entschlossenheit des Westens aufzuweichen.
Moskau ist sich darüber im Klaren, dass neue Wellen von Hungermigranten aus Afrika weniger in Richtung Eurasische Wirtschaftsunion als in Richtung Europäische Union ziehen werden. Dort wird ihre Ankunft häufig prorussischen rechtsradikalen Parteien, wie der AfD, elektoral zugutekommen.
Es verwundert, dass diejenigen – nicht nur westlichen – Länder, deren nationale Interessen auf dem Territorium der Ukraine verletzt werden und deren Armeen in der Lage wären, sie zu verteidigen, dies nicht tun. Dieses Versäumnis ist umso erstaunlicher, als Russland über der Ukraine ausschließlich unbemannte Flugkörper, d.h. Raketen und Drohnen, einsetzt. Die russische Armee setzt nicht einmal unmittelbar an der Front bemannte Flugobjekte ein. Sie operiert nur über den von Russland kontrollierten Gebieten der Ukraine mit Flugzeugen und Hubschraubern.
Sicherheit ukrainischer Kernkraftwerke bedroht
Getreidefelder, -lager und -transport sind nicht die einzigen Objekte in der Ukraine, die auch für andere Länder wichtig sind. Die Sicherheit der ukrainischen Kernkraftwerke – einschließlich des stillgelegten AKW Tschernobyl – sollte für Dutzende von staatlichen und zwischenstaatlichen Stellen in Brüssel, Berlin, Genf, Wien und so weiter ebenfalls von hohem Interesse sein. Doch das scheint nur beschränkt der Fall zu sein. Große Teile des EU-Territoriums sind mit gesperrten oder eingeschränkten Geozonen übersät, in denen der Flug von Drohnen verboten oder reguliert ist. Ein paar hundert Kilometer weiter östlich können russische Raketen und Drohnen mit Sprengköpfen unterschiedlicher Größe in der Nähe von Atomkraftwerken frei von westlicher Einmischung operieren.
Wird die EU gegebenenfalls Einreisebeschränkungen für osteuropäische Nuklearpartikel einführen, sobald sie in die Luft sind und der Wind nach Westen weht? Wird Frontex radioaktive Wolken, die an die Tür der EU klopfen, zurück in ihr Herkunftsland schicken?
Eine ebenso bizarre Geschichte verbirgt sich hinter der Entsendung und Abordnung von westlichen Diplomaten und anderen Bürokraten in die Ukraine. Hunderte von europäischen und außereuropäischen Regierungsbeamten kommen für mehr oder weniger lange Dienstreisen nach Kiew. Sie tun dies auch nachdem die ukrainische Hauptstadt seit dem 10. Oktober 2022 ein ständiges Ziel wöchentlicher unbemannter russischer Luftangriffe geworden ist.
Viele dieser Beamten vertreten Länder mit starken Luftstreit- und Luftabwehrkräften. Doch weder auf dem Weg von der ukrainischen Westgrenze in die Hauptstadt noch in Kiew selbst genießen diese entsandten, abgeordneten oder besuchsweisen Staatsbediensteten den Schutz ihrer Hightech-Armeen. Stattdessen müssen sie sich ganz auf die ukrainische Luftverteidigung und Sicherheitseinrichtungen verlassen.
Flugverbotszonen gemeinsam technisch umsetzen
Neben anderen ausländischen Diplomaten und Politikern musste sich der UN-Generalsekretär Antonio Guterres während eines russischen Luftangriffs auf das Kiewer Stadtzentrum (der später von Moskau bestätigt wurde) in einem Schutzraum verstecken, als er Ende April 2023 offiziell die Ukraine besuchte.
Willige westliche und andere Länder sollten eine Koalition bilden, welche bestimmte Orte in der Ukraine als von vitalem Interesse für diese Staaten und daher zum Sperrgebiet für Drohnen sowie Raketen deklariert. Sie sollten gemeinsam entscheiden, wie sie solche Flugverbotszonen technisch umsetzen sowie die Zustimmung der ukrainischen Regierung zu ihren Maßnahmen einholen. Moskau wird lernen müssen, dass alle direkten oder indirekten Bedrohungen der physischen Sicherheit der Bürger dieser Koalition neutralisiert werden.
Der Autor ist Analyst am Stockholmer Zentrum für Osteuropastudien (SCEEUS) des Schwedischen Instituts für Internationale Angelegenheiten.
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