Es ist eine Operation am Herz der Demokratie. Denn es geht um das Wahlrecht. Das Herz ist zu fett geworden, sprich: der Bundestag ist zu groß. 736 Abgeordnete sitzen im Parlament – eine Rekordzahl. Freilich ein Trend, der sich seit Jahren abzeichnet. Auch schon 2017 zogen 709 MdBs nach Berlin. Die Bundestagspräsidenten Norbert Lammert und Wolfgang Schäuble wetzten, wenn man in Operationsbild bleiben will, bereits die Messer.
Doch sie drangen mit ihren Vorschlägen zur Verkleinerung nicht durch. Denn der Patient ist sehr sensibel: Bei manchen Abgeordneten geht die Angst um, dass eine Reform des Wahlrechts ihnen das Mandat kosten könnte. Und damit zeigt sich schon ein Grundproblem der Reform: Diejenigen, die betroffen sind, stimmen über die Veränderungen ab. Und obwohl es hier sozusagen ums Eingemachte geht, besteht doch die große Wahrscheinlichkeit, dass bei allen hehren Bekenntnissen zur Bedeutung von Wahlen für die Demokratie bei manchen Abgeordneten die Sorge um die Sicherung ihres Parlamentssitzes bei ihrer Entscheidung eine gewichtige Rolle spielen wird. Freilich ist auch das legitim, muss aber berücksichtigt werden, man man die Vielzahl an öffentlichen Stellungnahmen zu dem Thema einordnen will.
Schuld sind die Überhangmandate
Zunächst aber noch etwas zur Diagnose: Schuld an dem aufgeblähten Parlament sind die sogenannten Überhangmandate. Sie kommen dann zustande, wenn eine Partei in einem Bundesland mehr Direktmandate erringt als es ihrem Anteil an dem Zweitstimmen-Ergebnis entspricht. Davon ist besonders die CSU betroffen, deren Vertreter deswegen sich auch recht engagiert in die Debatte einmischen. Oft können solche Mandate mit Listenmandaten der Partei in anderen Bundesländern verrechnet werden. Bei der CSU ist das aber nicht möglich, schließlich kandidiert sie nur in Bayern. Die Überhangmandate ziehen daher wiederum Ausgleichsmandate für die anderen Parteien nach sich. Was das bedeutet, wird klar, wenn man sich die Zahlen des CSU-Beispiels vor Augen führt: 2021 errangen die Christsozialen acht Überhangmandate, das führte zu 30 Ausgleichsmandaten bei der CDU, bei der SPD zu 36, bei der AfD zu 14, bei der Linken zu 7 und schließlich bei den Grünen zu 24 – macht in der Summe 127 zusätzliche Abgeordnete.
Nun zu den Operationsmethoden, die zur Diskussion stehen. Da ist zunächst einmal das Modell der Ampelregierung: Die zentralen Begriffe des Reformvorschlags lauten „Mehrheitsregel“ und „Hauptstimme“. Zur „Hauptstimme“ wird die bisherige „Zweitstimme“ deklariert. Sie soll für die Zusammensetzung des Parlamentes entscheidend sein. Bisher war es so, dass alle Abgeordneten, die ein Direktmandat, also die Mehrheit der Erststimmen in ihrem Wahlkreis errungen haben, auch in den Bundestag eingezogen sind.
Das ganze Verfahren ist ziemlich kompliziert
Der Vorschlag sieht nun vor, - das ist eben die Mehrheitsregel - dass Direktmandate mit schwachem Ergebnis so lange nicht berücksichtigt werden, bis das Verhältnis zum Zweitstimmenergebnis wieder hergestellt ist. Nur dann, wenn im Wahlkreis das Ergebnis der Erststimmen durch das der Zweitstimmen gedeckt ist, soll der Kandidat Abgeordneter werden. Das bedeutete, nicht jeder Sieger im Wahlkreis zieht automatisch in den Bundestag ein. Schließlich soll auch noch eine sogenannte „Ersatzstimme“ geschaffen werden. Mit ihr sollen die Wähler den Direktkandidaten einer anderen Partei bestimmen können, der dann zum Zuge kommt, wenn der ursprünglich gewählte Kandidat nicht zieht. Dazu heißt es in dem Eckpunktepapier, das die Ampelparteien vorgelegt haben: „Für den Fall, dass ein Wahlkreismandat mangels Zweitstimmendeckung nicht an den oder die Erstplatzierte zugeteilt werden kann, werden die Ersatzstimmen derjenigen Wählerinnen und Wähler, deren Erstpräferenz wegen mangelnder Zweitstimmendeckung des präferierten Kandidaten nicht berücksichtigt werden konnte, zu den Erstpräferenzen der anderen Wähler hinzugezählt.“ Kurz: Das ganze Verfahren ist ziemlich kompliziert.
Nun hat aber auch die Union einen eigenen Vorschlag vorgelegt: Friedrich Merz will, dass die bisherige Regelung zu den Überhang- und Ausgleichmandaten bestehen bleibt. Dafür soll aber die Zahl der Wahlkreise reduziert werden, und zwar von aktuell 299 auf 270. Ebenso soll es mehr Listenmandate geben und 15 Überhangmandate sollen unausgeglichen bleiben. Auch soll die bisherige Regelung, nach der bei drei erzielten Direktmandaten einer Partei die Fünf Prozent-Hürde wegfällt, verändert werden. Nach dem Vorschlag der Union, sollen es nun fünf Direktmandate sein. Betroffen ist hier die Linkspartei.
In den nächsten Wochen wird sich abzeichnen, ob Ampel und Union zu einem gemeinsamen Kompromiss finden. Oder ob die Union tatsächlich einen Normenkontrollantrag vor das Bundesverfassungsgericht bringt. Die CSU scheint im Fall des Falles zu allem bereit, ob dies aber auch für die Mehrzahl der CDU-Fraktionsmitglieder gilt, scheint im Moment noch ungewiss.
Warum nicht zum generellen Mehrheitswahlrecht wechseln?
Auffällig ist, dass in der ganzen Debatte kaum ein Aspekt aufgeführt wird: Nämlich die Frage, ob nicht auch die Möglichkeit bestünde, zu einem generellen Mehrheitswahlrecht zu wechseln. Dann würde die Zweitstimme, die bei dem „Ampel“-Vorschlag als „Hauptstimme“ firmiert, gänzlich gestrichen. Stattdessen würden in das Parlament nur noch Direktkandidaten einziehen. Ein solcher Vorstoß hätte freilich erhebliche Auswirkungen auf die politische Kultur insgesamt. Und davor schrecken ganz offenbar die Verantwortlichen in allen Parteien zurück.
Die Debatte um die Wahlrechtsreform wird zwar öffentlich geführt. Für den Normalbürger wird es aber immer schwieriger, die komplexen Zusammenhänge tatsächlich zu durchschauen. Müsste man den Beziehungsstatus benennen, der sich hier zwischen Wählern und Gewählten offenbart, er müsste wohl heißen: Es ist kompliziert. Bleibt zu hoffen, dass es am Ende nicht heißt: Operation gelungen, Patient tot.
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