Noch vor dem Finale des Brexit-Dramas vollzieht sich in diesen Tagen der große Wachwechsel an der Doppelspitze der Europäischen Union in Brüssel. Die beiden Präsidenten der EU, Jean-Claude Juncker und Donald Tusk, räumen ihre Schreibtische für die Nachfolger. Allzu kurzatmig fragen manche, was Kommissionspräsident Juncker in den vergangenen fünf Jahren erreichte. War da nicht nur Krisenmanagement, von der Griechenland-Rettung über das Migrations-Chaos bis zum Brexit-Desaster?
Wieviel der Investitionsplan des Luxemburgers zur wirtschaftlichen Genesung Europas beigetragen hat, ob es tatsächlich der Charme des haptisch offensiven Christdemokraten war, der US-Präsident Trump im drohenden Handelskrieg beidrehen ließ – dies und vieles mehr wird noch lange Gegenstand vieler Kontroversen sein.
Der einzige Kommissionspräsident, der durch eine Europawahl legitimiert war
Unstrittig ist, dass Juncker der einzige Kommissionspräsident ist, der je durch eine Europawahl legitimiert war, also nicht – wie seine Vorgänger und wie seine Nachfolgerin Ursula von der Leyen – durch einen Hinterzimmer-Deal der Regierungschefs ins Amt gelangte. Unstrittig auch, dass er als erfahrener Finanzminister und Ministerpräsident Luxemburgs sowie als Chef der Euro-Gruppe mehr EU-Erfahrung ins Amt mitbrachte als alle anderen. Aus diesen Gründen, und weil er von Anfang an eine zweite Amtszeit ausschloss, konnte Juncker ohne Rücksicht auf die Empfindlichkeiten nationaler Regierungschefs agieren: Anders als der Portugiese José Manuel Barroso zuvor, verstand sich Juncker als EU-Regierungschef. Seine Kommission sah er als Regierung in allen EU-Agenden. Weil der Polit-Fuchs aus Luxemburg aber wusste, dass die Regierungschefs ihm nicht kampflos die Führung der EU überlassen würden, spielte er ihnen selbst den Ball zu, die EU zu reformieren. Er selbst formulierte fünf verschiedene Wege dazu, aber die 28 Mitgliedstaaten sollten daraus auswählen.
Als von der katholischen Soziallehre geprägter Christdemokrat nahm der Kommissionschef das Subsidiaritätsprinzip ernst: „Nicht jedes Problem in Europa ist ein Problem für Europa“, lautet das Mantra Junckers, der hunderte Gesetzesvorhaben begraben ließ. Wichtig war ihm ebenso das Solidaritätsprinzip: Mögen andere bei der Sanierung Griechenlands vor allem an die ökonomischen Folgen für ihre eigenen Banken gedacht haben; der Luxemburger sah es schlicht als undenkbar an, einen EU-Mitgliedstaat dem Staatsbankrott anheimzugeben. Solidarität war auch sein Stichwort in der Migrationskrise des Jahres 2015. Als sich die nationalstaatlichen Regierungen über die Grundprinzipien des Umgangs mit der Migrationswelle in den Haaren lagen, arbeitete Juncker fieberhaft an immer neuen Konzepten für eine neue, solidarische Regelung des Asylrechts und der Sicherung der EU-Außengrenzen.
Keine Krise führte zum Untergang der EU
Freilich, Juncker konnte weder die emotionalen noch die ideologischen Gräben zwischen Orbán und Merkel, zwischen Rom und Paris, zwischen London und Brüssel überbrücken. Doch allen Auguren zum Trotz hat keine der Krisen seiner Jahre den Untergang der EU herbeigeführt. Wohl hätte der leidenschaftliche Europäer seine EU gerne um- und ausgebaut, reformiert und wetterfest gemacht. Doch der erfahrene Pragmatiker kann am Ende seiner Amtszeit zufrieden bilanzieren, dass er alle Untergangspropheten widerlegt hat. Dass die EU trotz Finanz- und Wirtschaftskrise, Griechenland- und Brexitkrise, Migrations- und Asylkrise nicht zerbrach, ist auch Juncker zu danken. Seiner Führungsstärke in der Kommission wie in der Öffentlichkeit, seiner Kompromissfähigkeit in Verhandlungen mit Regierungen und Parlamentariern. Der überzeugte Großkoalitionär widersprach manchem Fraktions- oder Regierungschef klar, aber nie so hart, dass die Gesprächsbasis beschädigt worden wäre.
Als Christdemokrat mit starker sozialer Ader war die Suche nach dem breiten Konsens für ihn kein Zeichen von Schwäche, sondern von Staatskunst. Der Bruch mit Viktor Orbán hat mehr damit, mit Mentalität und Charakter, denn mit Weltanschauung zu tun. Das Polarisierende und Polternde ist Juncker wesensfremd. Er bevorzugt in seinen meist dreisprachigen Reden die feine, mitunter mehrdeutige Ironie.
Kommissionspräsidentin von Macrons Gnaden
Meistens jedenfalls, denn auch mancher Wutanfall Junckers ist überliefert: So platzte ihm in Straßburg der Kragen, als Maltas Regierungschef vor einem nahezu menschenleeren Europaparlament referierte. „Lächerlich“ mache sich das Parlament auf diese Weise, schimpfte Juncker, und ließ sich auch nicht von Parlamentspräsident Antonio Tajani bremsen, der energisch darauf hinwies, dass das Parlament die Kommission kontrolliere, nicht umgekehrt.
Nun, die Zeiten, da mit Tajani, Juncker und Tusk drei Christdemokraten an der Spitze der drei EU-Institutionen standen, sind am Sonntag endgültig vorüber. Der Pole Donald Tusk, der als EU-Ratspräsident vor allem ein Moderator der EU-Gipfel war, wo er hinter den Kulissen auszugleichen und Kompromisse auszuloten hatte, darf sich künftig wieder stärker profilieren. Die christdemokratische Parteienfamilie Europas, die „Europäische Volkspartei“ (EVP), wählte ihn vor wenigen Tagen in Zagreb zu ihrem Präsidenten.
Tusks Nachfolger als EU-Ratspräsident ist Charles Michel, einst glückloser Premierminister Belgiens. Er gilt als Vertrauter des französischen Präsidenten Emmanuel Macron. Dass Paris nicht nur seit 1. November mit Christine Lagarde die Präsidentin der Europäischen Zentralbank (EZB) stellt, sondern mit Michel einen Macron-Intimus installierte und – in einer unheiligen Allianz mit Budapest – im Kampf um das Amt des Kommissionspräsidenten den Sieger der Europawahl ausbremste, zeigt, wie sich die Gewichte in der EU verschoben.
Macron, Merkel und Orban entwerten die Europawahl
Macron griff nach der Europawahl zum Telefon, um Viktor Orbán davon zu überzeugen, den christdemokratischen Spitzenkandidaten Manfred Weber als Juncker-Nachfolger zu verhindern. Wieviel Weltanschauung dabei mitschwang, als der Hüter der laizistischen Staatstradition Frankreichs den bekennenden Katholiken Weber verhinderte, wird wohl nie ganz aufgeklärt.
Dass Macron, Merkel und Orbán die Europawahl im Nachhinein entwerteten, als sie das Spitzenkandidaten-System zertrümmerten und ihrerseits eine Kommissionspräsidentin aus dem Hut zauberten, die gar nicht zur Wahl angetreten war, ist aber Geschichte. Mit dieser Geschichte müssen Ursula von der Leyen und ihre EU-Kommission künftig regieren. Oder administrieren, denn recht viel mehr werden Paris und Berlin wohl nicht gestatten.
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