Am Montag ging die erste Parlamentswahl in Syrien seit dem Sturz von Assad zu Ende. „Wahl“ unter Anführungszeichen, denn man darf sich darunter keine allgemeine demokratische Wahl vorstellen, an der alle Wahlberechtigten teilnehmen, um ihre Volksvertreter zu wählen. Stattdessen war es eine indirekte Wahl, bei der vorab von den Machthabern ausgewählte Mitglieder von Wahlkomitees aus ihren Reihen zwei Drittel der Abgeordneten wählten, während das verbleibende Drittel vom Präsidenten ernannt wird.
So haben nur wenige tausend Personen abgestimmt, die selbst nicht demokratisch legitimiert waren. Nicht vertreten waren die von den Kurden kontrollierten Regionen im Nordosten sowie die von Drusen bewohnte Provinz Suweida im Süden. Als Gründe für diese Vorgehensweise nannte die Übergangsregierung die schwierige Lage (enorme Zahl von Syrern als Flüchtlinge im Ausland, fehlende Dokumente), die eine klassische Volkswahl nicht zulasse.
Diese Wahl ist eine Farce
Viele unserer christlichen Projektpartner im Land bezeichnen diese Wahl als Farce und meinen, dass man eher von einer Parlamentsnominierung als von einer Parlamentswahl sprechen sollte. Angeblich wollte Präsident Ahmed al-Scharaa das von ihm zu nominierende Drittel der Abgeordneten nützen, um Frauen und Vertreter von Minderheiten zu nominieren, die vom vorliegenden Wahlergebnis kaum repräsentiert sind.
Es bleibt abzuwarten, ob das wirklich der Fall sein wird. Zwar versuchen die neuen Machthaber offensichtlich, das Ausland und insbesondere den Westen zufrieden zu stellen, indem sie sich einen demokratischen Anschein geben, aber im Land selbst erfolgt – allen gegenteiligen Versprechen zum Trotz – eine schleichende Islamisierung und Einschüchterung der Minderheiten. Auch wenn es keinen direkten Zusammenhang mit den „Wahlen“ gibt, so lassen schwere Kämpfe zwischen den Sicherheitskräften der neuen Machthaber und der SDF, den kurdisch dominierten Syrian Democratic Forces, zu Wochenbeginn in Aleppo die Sorge wachsen, dass nach den Massakern an der alawitischen Bevölkerungsgruppe in der Küstenregion zu Jahresbeginn und den jüngsten Auseinandersetzungen mit den Drusen im Süden nunmehr die Kurden an der Reihe wären.
Der Autor ist Projektkoordinator des Hilfswerks Initiative Christlicher Orient (ICO).
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