Eine überraschende Kehrtwende des französischen Senats hat in der vergangenen Woche den Weg für die Verankerung eines "Rechts" auf Abtreibung in der französischen Verfassung freigemacht. Das französische Oberhaus galt bisher als sichere Bastion gegen eine weitere Aufweichung des Lebensschutzes. Ausschlaggebend waren die Stimmen mehrerer konservativ-bürgerlicher Senatoren, die einem rhetorischen Taschenspielertrick aufgesessen sind. Statt "Recht auf Abtreibung" lautet die Formulierung nun "Freiheit, eine Schwangerschaft zu beenden". Allerdings unterscheidet die französische Verfassung gar nicht klar zwischen Rechten und Freiheiten, so dass der Unterschied nicht ins Gewicht fallen dürfte.
Verfassungsrechtliche Zementierung
Sollte das Gesetz tatsächlich beschlossen werden, würde es damit erstmals in Europa auch verfassungsrechtlich eine Entwicklung der Abtreibungsgesetzgebung zementieren, die ideologisch bereits seit langem vollzogen ist: von einer Ausnahme in schweren Notsituationen hin zu einem Grundrecht und einer modernen bürgerlichen Freiheit. Wird Abtreibung zu einem verfassungsrechtlich garantierten Recht erklärt, dann sind Kompromisse wie Fristenlösungen, die auf dem für die Rechtsordnungen in Europa (noch) grundlegenden Schutz des menschlichen Lebens von seiner Zeugung an beruhen, perspektivisch hinfällig.
Noch handelt es sich bei der Abtreibung in Staaten wie Frankreich, Deutschland oder Österreich um ein Delikt, das in Einzelfällen straffrei bleibt. Für die Ampelkoalition fallen Schwangerschaftsabbrüche jedoch unter die Gesundheitsversorgung und das Selbstbestimmungsrecht der Frau. Erst im Januar hat sich Familienministerin Lisa Paus für die Abschaffung des Paragrafen 218 des Strafgesetzbuchs ausgesprochen. In Spanien debattiert der Senat gerade ein "Gesetz zur sexuellen und reproduktiven Gesundheit", das unter anderem die verpflichtende Bedenkzeit vor einer Abtreibung abschafft und Abtreibungen ab 16 ohne elterliche Zustimmung ermöglicht. Auch für zwischenstaatliche Organisationen - von Abtreibungsaktivisten gar nicht zu sprechen - fällt Abtreibung unter die Chiffre "reproduktive Gesundheit". Die im vergangenen Jahr veröffentlichten Abtreibungsrichtlinien der Weltgesundheitsorganisation fordern daher eine vollständige Entkriminalisierung der Abtreibung weltweit.
Zugang zu Abtreibung könnte eingeklagt werden
Gerade Frankreich, das mit mehr als 220.000 Abtreibungen pro Jahr eine der höchsten Abtreibungsraten in Europa hat, fühlt sich als Vorreiter in der Abtreibungsfrage. Von Präsident Emmanuel Macron stammt der Vorschlag, ein "Recht auf Abtreibung" in die EU-Grundrechtecharta aufzunehmen und damit die EU-Mitgliedstaaten zur Bereitstellung einer liberalen Abtreibungsregelung zu verpflichten. Der Forderung, "das Recht auf sichere und legale Abtreibung" in die Grundrechtecharta der EU aufzunehmen, schloss sich im Januar auch das Europäische Parlament an, was keine Rechtsfolgen hat.
Woher diese Emsigkeit gerade jetzt? Für den Vorstoß der französischen Linken im Verein mit Macrons Regierungspartei diente das Urteil des Obersten Gerichtshofs in den USA im Juni des Vorjahres nur als Vorwand, denn weder in Frankreich noch in den meisten anderen europäischen Ländern stellt eine politische Kraft den Zugang zu Abtreibungen mit Aussicht auf Erfolg infrage. Ausnahmen sind Polen, Ungarn und Malta. Aber: Auch in Ländern wie Frankreich und Deutschland geht die Zahl von abtreibungswilligen Ärzten zurück. Auch die Zahl der Einrichtungen, die Abtreibungen anbieten, schwindet. Das ist sicherlich auch darauf zurückzuführen, dass eine Generation von durch die Debatten der 1970er Jahre ideologisch motivierten Ärzten nun in Ruhestand geht. Wird Abtreibung zu einem Grundrecht, kann der Zugang dazu auch eingeklagt werden - gegenüber dem Staat, möglicherweise aber auch gegenüber einzelnen Einrichtungen. Für Ärzte, die Abtreibungen aus Gewissensgründen ablehnen, könnte die Luft in Europa bald dünn werden.
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