Die Hundert-Tage-Schonfrist war rum, und die Medien voll mit eher mäßigen Urteilen: Die Ansage von Bundeskanzler Friedrich Merz etwa, einen kräftigen Impuls für Wirtschaftswachstum noch vor der Sommerpause zu geben, sei ausgeblieben – trotz des riesigen Sondervermögens. Auch biete Schwarz-Rot wegen mangelnder Absprache kaum weniger Spannungen in der Koalition als die Ampel zuvor. Und von den versprochenen Sparanstrengungen im Haushalt sei auch nicht viel zu spüren. Skepsis allerorten. Nach dem holprigen Start der deutschen Bundesregierung ist das keine große Überraschung. Aufhorchen indes lassen die Bewertungen des jüngsten Mitglieds im Kabinett Merz, Reem Alabali Radovan (SPD) – Tochter irakischer Migranten, Schwerinerin, Sozialdemokratin, chaldäische Katholikin und Entwicklungsministerin.
Auch Alabali Radovan hat, wie mancher Kabinettskollege, mit großen Herausforderungen zu kämpfen. Man denke an den Krieg Russlands gegen die Ukraine, wo das Entwicklungsministerium (BMZ) den Wiederaufbau unterstützt, aber auch an die Kämpfe in Syrien, Kongo oder Sudan: alles Wirkungsräume der deutschen Entwicklungszusammenarbeit, die dort vor der Herausforderung steht, Krisenbewältigung in Konfliktgebieten zu bewerkstelligen, die weltweit kaum Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Wer interessiert sich schon für Tschad, Südsudan oder Ostkongo?
Die Augsburger Allgemeine schrieb in ihrer Hundert-Tage-Bilanz: „Alabali Radovan agiert bei ihrer Arbeit bislang eher unaufgeregt, aber fleißig.“ Der Stern befand zur Ressortchefin aus Mecklenburg-Vorpommern: „Superkraft: Menschenrechte“. Die Rheinische Post (Düsseldorf) nahm sie auf in die Liste der bislang meist positiv aufgefallenen Minister. Das war nicht unbedingt zu erwarten nach ihrem Amtsantritt. In der Ampel war Alabali Radovan bereits Bundesbeauftragte für Migration und Integration, und als solche nur selten in Erscheinung getreten. An ihr haftete zudem der Malus, als politisches Ziehkind von Ministerpräsidentin Manuela Schwesig zu wenig eigene Zielstrebigkeit ins Amt zu bringen.
Wird Steuergeld verpulvert?
Das hat sich geändert, wohl auch aufgrund des Drucks, der sich aus der dynamischen Weltlage ergibt. Konflikte allerorten, oft verbunden mit einem kaum durchschaubaren Geflecht von Partikularinteressen, etwa im Sudan, im Kongo und in Nigeria, Myanmar oder Venezuela. Erschwerend kommt für die Entwicklungszusammenarbeit das Sägen interessierter Kreise an den Beinen des Stuhls, auf dem die Entwicklungszusammenarbeit sitzt, hinzu. Das begann schon vor der jüngsten Bundestagswahl. Stichwort „Radwege in Peru“. „Verpulvert die Entwicklungszusammenarbeit unser sauer verdientes Steuergeld?“, lautet die Frage. Bei aller Kritikwürdigkeit mancher Projekte hat sich in den Koalitionsverhandlungen doch die Erkenntnis durchgesetzt, dass Deutschland durchaus profitiert vom guten Ruf seiner Entwicklungszusammenarbeit in der Welt.
Doch der Druck bleibt und die Entwicklungszusammenarbeit muss sich reformieren. Alabali Radovan muss sich dieser Aufgabe stellen, einer Mammutaufgabe angesichts des großen, an manchen Stellen aufgeblähten und mit vielen Einzelinteressen gespickten Entwicklungszusammenarbeit-Apparates in Deutschland. Die Zeit eilt, da sich die USA mit ihrer Entwicklungszusammenarbeit durch das Zusammenstreichen der staatlichen Organisation USAID fast komplett aus dem Rennen genommen haben. Zurzeit ist noch völlig unklar, wie etwa die weltweiten Programme zum Impfschutz, zur Bekämpfung von Malaria, Cholera, HIV und vielen anderen Erkrankungen künftig finanziert werden sollen. Die USA waren hier Vorreiter. Ähnliches gilt für die Ernährungssicherung und Armutsbekämpfung. In Europa haben sich zudem Großbritannien und Frankreich immer weiter aus der internationalen Hilfe zurückgezogen. Kann Deutschland, auch wenn es – nach USA und China – weiterhin die drittgrößte Volkswirtschaft der Welt ist, all die Ausfälle stemmen?
Neue regionale Schwerpunkte
Unmöglich, sagt Alabali Radovan. „Fokussierung“ sei die klügere Antwort. Doch auf welche Bereiche? Noch arbeitet das BMZ an Konkretisierungen. Es gibt Hinweise. Neue regionale Schwerpunkte etwa in Nahost, am Horn von Afrika oder im Sahel. Was immer am Ende herauskommt, die Realität mit den zahlreichen Konflikten weltweit legt einen inhaltlichen Schwerpunkt nahe: die friedensstiftende Kraft, die von der Entwicklungszusammenarbeit ausgehen kann.
Es ist eine schlichte, zugleich aber wegweisende Erkenntnis: Die Menschen sehnen sich nach Frieden, gerade in einer Welt voller Krisen. Nach Ende des Kalten Krieges stand das lange nicht in der ersten Reihe des öffentlichen Bewusstseins. Auch nicht bei den entwicklungspolitischen Zielen. Jetzt ist es aber wieder nach vorn gerückt und bietet auch der Entwicklungszusammenarbeit neue Chancen. Künftig noch stärker friedensstiftend zu wirken, gäbe ihr einen neuen Drive, vielleicht sogar neuen Sinn, den sie nach den schweren medialen Angriffen in den vergangenen Jahren dringend gebrauchen kann. Möglicherweise ist die friedensstiftende Wirkung, die durch Entwicklungszusammenarbeit erzielt werden kann, sogar wichtiger als eine stärkere Ausrichtung an der Wirtschaft, wie sie der schwarz-rote Koalitionsvertrag vorsieht.
Die Entwicklungszusammenarbeit vermag sicher nicht die Kernvoraussetzungen für Frieden in Kriegsgebieten zu schaffen. Man erinnere sich etwa an den Frieden in Mosambik, der 1992 nach langen Verhandlungen von der katholischen Organisation Sant´Egidio vermittelt und im Friedensabkommen von Rom manifestiert wurde. Eine unglaubliche Erfolgsgeschichte. Der damalige UN-Generalsekretär Boutros Boutros-Ghali nannte das Rezept die „italienische Formel“: Laien, die – ohne eigene Interessen zu verfolgen – ein breites Netzwerk nutzen und weiterspannen, in dem ehrlich und beharrlich am Ausgleich der Interessen gearbeitet wird und in dem sich alle betroffenen Parteien mitgenommen fühlen. Trotz mancher Rückschläge: Der Frieden in Mosambik währt bis heute. Der verstorbene Journalist Arrigo Levi erinnerte sich 2002: „Die Annäherung an den Frieden ist… notwendigerweise das Ergebnis einer Bekehrung, deren erster Schritt darin besteht, den Feind nicht mehr als eine Sache oder als Objekt anzusehen, sondern als einen anderen Menschen, der denken und fühlen kann. Diese Bekehrung besteht notwendigerweise auch in einer tiefen Überprüfung und neuen Sicht der eigenen Überzeugungen, der eigenen Vorstellungen von der Welt und der eigenen Argumente, die in Frage gestellt werden müssen.“
Putin wäre nicht beeindruckt
Wladimir Putin würde das wohl nicht beeindrucken. Aber es ist nicht ausgeschlossen, dass die „italienische Formel“ in Bürgerkriegen (ähnlich wie in Mosambik) heute noch funktioniert: vielleicht im Südsudan, Sudan und Kongo. Hier käme das BMZ ins Spiel. Es verfügt dank seiner Partnerorientierung in vielen Entwicklungsländern über breite Netzwerke. Diese Kontakte könnten genutzt, Synergieeffekte erzielt werden. Fest steht: Jede Brunnenbohrung trägt sehr oft auch zur Stabilisierung in der Gesellschaft bei, die vom Brunnen profitiert, denn der Zusammenhalt wächst, wenn es allen besser geht. So gesehen war Entwicklungszusammenarbeit immer schon Friedensarbeit. In Mosambik wurde der Frieden vor 1992 von niemandem für möglich gehalten. Eine „eher unaufgeregte, aber fleißige“ Ministerin könnte vielleicht neue Impulse geben.
Der Autor ist Journalist und Afrika-Experte
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