Herr Stoiber, die europäische Einigung ist schon immer ein Kernthema für die CSU gewesen. Worauf läuft sie Ihrer Ansicht nach hinaus: Glauben Sie an die Vereinigten Staaten von Europa oder werden die Nationalstaaten die entscheidenden Größen bleiben?
Ich halte die Vereinigten Staaten von Europa für eine verlockende, aber unrealistische Idee. Identitätsträger in Europa werden auf absehbare Zeit die Nationalstaaten mit ihren unterschiedlichen Kulturen und völlig verschiedenen gesellschaftlichen Entwicklungen sein. 90 Prozent aller EU-Bürger fühlen sich primär als ihren Nationalstaaten zugehörig. Deshalb kann Europa die Nationalstaaten nicht ersetzen. Das muss aber auch nicht sein: Wir brauchen mehr Europa in den großen Fragen wie Migration, Sicherheits- oder Außenpolitik. Hier muss man darüber nachdenken, das strenge Einstimmigkeitsprinzip zu lockern. In anderen Fragen, die national besser gelöst werden können, sollten auch Kompetenzen zurück an die Nationalstaaten übertragen werden. Europa und Nationalstaaten ergänzen sich. Der ehemalige Verfassungsrichter Di Fabio hat es richtig formuliert: Ohne eine starke EU gibt es für das Nationalstaatskonzept keine gute Zukunft, weil die Staaten Europas im Weltmaßstab einfach zu klein sind, um mit Konkurrenten wie China oder den USA mithalten zu können. Aber ohne stabile Mitgliedstaaten gerät der europäische Überbau ins Wanken.
Ihre Position dürften viele teilen, aber kaum ein deutscher Politiker spricht sie so deutlich aus.
Ich habe dies immer gesagt. Schon als Helmut Kohl noch Bundeskanzler war, der bis Anfang der 90er Jahre einen europäischen Bundesstaat nach Maßgabe der Vereinigten Staaten von Amerika wollte. Wir haben uns bis in den Bundestag hinein darüber gestritten. Erst nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Maastricht-Vertrag Ende 1993 hat Kohl seine Auffassung geändert. Und der EU-Verfassungsvertrag ist ja dann auch am Widerstand in Frankreich und den Niederlanden gescheitert. In Lissabon wurde keine Verfassung, sondern ein völkerrechtlicher Vertrag verabschiedet. Die EU ist eben kein Bundesstaat, sondern ein Staatenverbund.
Schauen wir auf die CSU: Finden Sie die Klima-Offensive von Markus Söder richtig? Können Ökonomie und Ökologie miteinander versöhnt werden oder bleibt das eine Illusion?
Der Klimawandel ist eine Zukunftsaufgabe, die für Markus Söder ein persönliches und echtes Anliegen ist. Er hat ja schon als bayerischer Umweltminister bewiesen, dass ihm das Thema am Herzen liegt. Bayern unter der Führung der CSU war immer schon ein Vorreiter in Sachen Umweltschutz. Was die CSU als Volkspartei der Mitte von den Grünen unterscheidet, ist, dass sie immer darauf achtet, Klimaschutz im Einklang mit der Wirtschaft und den kleinen Leuten voranzubringen. Das weiß Markus Söder und handelt entsprechend. Ökonomie und Ökologie müssen Hand in Hand gehen. Deutschland ist ein Industrieland, ist aber nur für zwei Prozent des gesamten CO2-Ausstoßes verantwortlich. Verbote aus Klimaschutzgründen einzuführen, ohne Rücksicht auf wirtschaftliche Belange, das ist keine Lösung. Klimaschutz muss nämlich auch dann funktionieren, wenn es uns wirtschaftlich nicht mehr so gut geht wie heute. Markus Söder will Klimaschutz und wirtschaftliche Konjunktur so zusammenbringen, dass sich die Gesellschaft nicht spaltet. Wir brauchen erstens Anreize statt Verbote, etwa den Zertifikatehandel statt einer CO2-Steuer, und zweitens massive Investitionen in umweltfreundliche Technologien und Innovationen. So sieht es auch der Klimaplan der CSU-Landesgruppe vor. Der Idee von Alexander Dobrindt, eine Klimaanleihe aufzulegen und damit Klimaschutzprojekte zu finanzieren, ist ist vor dem Hintergrund der aktuellen Negativzinspolitik der EZB ein neuer, aber richtiger Weg.
„Laptop und Lederhose“, dieser Slogan war zentral für das Programm Ihrer Amtszeit. Dahinter stand die Idee, Moderne und Tradition auf humane Weise miteinander zu verbinden. Ist Bayern aus Ihrer Sicht immer noch ein Musterland in dieser Beziehung?
Auf jeden Fall. Tradition und Fortschritt war für jeden bayerischen Ministerpräsidenten von Alfons Goppel über Franz Josef Strauß bis Markus Söder das Leitbild seines Handelns. Aber jede Zeit hat ihre eigenen Herausforderungen, Tradition und Fortschritt in politisches Handeln zu übersetzen. Strauß hat den modernen Industriestandort Bayern geschaffen. Stichwort: Bayern wird das Zentrum von Luft- und Raumfahrt, Airbus. Mein Thema war die Förderung von High Tech und Innovationen, finanziert durch die Privatisierung von Staatsbeteiligungen von über vier Milliarden Euro. Markus Söder hat die zeitgemäße Antwort gegeben: Künstliche Intelligenz, Robotik, Raumfahrt, Cleantech und Quantencomputing.
Die Union steht nicht nur vor der grünen Herausforderung. Wie gewinnt sie konservative Stammwähler zurück, die zur AfD gewechselt sind?
Zentral ist, und das tut die CSU, dass sie die Menschen ernst nimmt, die sich der AfD zugewendet haben. Die meisten sind ja – anders als viele Repräsentanten der AfD – keine Rechtsextremisten, sondern konservative Wähler, die mit der Flüchtlingspolitik der Bundesregierung nicht einverstanden waren. Ihnen müssen wir glaubhaft klarmachen, dass sich eine Situation wie 2015 nicht mehr wiederholen wird und dass die CSU das Bestmögliche tut, um die Sicherheit der Menschen in Deutschland zu gewährleisten. Die CSU steht mit Bundesinnenminister Seehofer und dem bayerischen Innenminister Joachim Herrmann wie keine andere Partei in Deutschland für Sicherheit. Ich habe es in Sachsen erlebt, wo ich für Ministerpräsident Michael Kretschmer Wahlkampf gemacht habe. Da stand in einer Versammlung eine Frau auf und berichtete über ihre Sorgen: Ihre Mutter lebe in einem Altenheim, der Pfleger stamme aus Bulgarien, der Arzt aus Afghanistan. Ihr Gefühl: Sie komme sich fremd im eigenen Land vor. Aus dem Publikum gab es viel Zuspruch. Natürlich habe ich dann über die demographische Entwicklung gesprochen und erklärt, warum wir Arbeitskräfte aus dem Ausland haben müssen. Trotzdem ist es falsch, solche Sorgen einfach abzutun. Nicht alle Menschen leben in Berlin-Mitte und fühlen sich einer globalen Elite zugehörig, für die die nationale Identität keine Rolle mehr spielt.
Als eng und freundschaftlich galt lange Zeit das Verhältnis zwischen CSU und katholischer Kirche. Während der Auseinandersetzung um die Kreuze in den Klassenzimmern 1995 führten Sie gemeinsam mit Kardinal Wetter einen großen Demonstrationszug an. Ein symbolisches Bild. Im letzten Jahr sah man bei einer anderen Demonstration in München Ordensleute mit Plakaten, auf denen „Ausgehetzt“ stand. Sie richteten sich gegen die Flüchtlingspolitik von Seehofer und Söder. Was hat sich geändert?
Katholische Wähler sind für die CSU nach wie vor eine wichtige Stütze. Aber die Katholiken waren nach der Flüchtlingskrise im Herbst 2015 kein homogener Block mehr. Da waren einmal die vielen kirchlichen Flüchtlingshelfer, die manch harten Ton aus der CSU nicht nachvollziehen konnten, aber auch diejenigen, die der islamischen Einwanderung aus kulturellen Gründen kritisch gegenüberstanden. Die CSU stand vor der schwierigen Aufgabe, beide Gruppen unter ein Dach zu bekommen. Erschwerend kam hinzu, dass die Kirchen einen meiner Meinung nach unnötigen Konflikt mit der Staatsregierung gegen die Aufhängung von Kreuzen in Behörden vom Zaun gebrochen haben. Kardinal Marx hat Markus Söder sogar eine Spaltung der Gesellschaft vorgeworfen!
Diese harte Tonart kann ich bis heute nicht nachvollziehen. Damals haben auch hohe Kirchenvertreter wie der Regensburger Bischof Rudolf Voderholzer oder Kardinal Gerhard Ludwig Müller widersprochen. Müller sagte: „Mir sind die Politiker lieber, die die Kreuze aufhängen, als diejenigen, die Kreuze abhängen.“
Im Gegensatz dazu standen 1995 bei der Demonstration für Kreuze in Schulen Kirchen und Staatsregierung auf derselben Seite, wo auch sonst? Die katholische Kirche, insbesondere Friedrich Kardinal Wetter, hatte mich damals gebeten, neben ihm und dem evangelischen Landesbischof von Loewenich bei der Demonstration zu reden.
Wie lässt sich das Verhältnis zwischen CSU und Kirche verbessern?
Reden, reden, reden. Im Dialog bleiben und bei Meinungsverschiedenheiten versuchen, auch die andere Seite zu verstehen, besonders auch die Christen, die Angst vor der Fremdheit im eigenen Land haben. Ich glaube, viele Irritationen sind mittlerweile ausgeräumt. Markus Söder hat ja beim Jahresempfang des Erzbistums München und Freising ein klares Signal gesetzt, dass die christlichen Grundwerte in Bayern uneingeschränkt gelten.
Müsste die CSU nicht stärker ihr C-Profil in der Tagespolitik herausstellen? Etwa in Fragen des Lebensschutzes?
Der Schutz des menschlichen Lebens und der Schutz der Menschenwürde gehören zur DNA der CSU, zum Beispiel auch in der Debatte um das Werbeverbot für Abtreibungen. Aber christliche Politik geht weit darüber hinaus: Bewahrung der Schöpfung, Solidarität mit den sozial Schwachen: Das ist auch heute noch das Programm der CSU.
Welche Rolle spielt der Glaube für Sie persönlich?
Ich bin ein überzeugter Katholik. Ich bin stark durch den Glauben geprägt. Wenn ich etwa an meine Kindheit denke: Das ganze Leben war durch den kirchlichen Festtagskalender bestimmt. Die Prozessionen waren eindrucksvolle Ereignisse, die ich nie vergessen werde. Wenn meine Frau und ich heute, etwa bei Spaziergängen, an einer Kirche vorbeikommen, dann gehen wir in der Regel hinein und setzen uns für eine Weile in die Bank und kommen zur Ruhe. Das gehört einfach dazu.