In Venezuela gibt es derzeit eine prekäre Pattsituation. Oppositionsführer Juan Guaidó ist vorerst mit seinem Versuch gescheitert, mit der „Operation Freiheit“ am 30. April und 1. Mai das Regime hinwegzufegen. Er habe überschätzt, dass sich mehr Militärs auf seine Seite schlagen würden, gab er später zu. Tatsächlich schlossen sich nur wenige Soldaten dem von mehr als 50 Staaten anerkannten Übergangspräsidenten an. Das Militär stützt nach wie vor Präsident Nicolás Maduro, der auf die „Operation Freiheit“ mit scharfer Repression antwortete. In der Hauptstadt Caracas fuhren gepanzerte Fahrzeuge in Demonstrantengruppen. Auch die paramilitärischen „Colectivos“ schlugen wieder einmal zu. Vier Menschen starben bei den dreitägigen Protesten, mehr als dreihundert wurden verletzt.
Aber das Regime von Maduro kann sich auch nicht als klaren Sieger bezeichnen. Trotz seiner vermeintlichen Machtdemonstration und der Niederschlagung des „Putsches“ steckt Maduros sozialistisches Regime tief in der Krise; das Wasser steht ihm bis zum Halse, auch wenn er von Russland und China gestützt wird. Guaidós „Operation Freiheit“, obwohl gescheitert, hat Risse im Lager des Regimes offengelegt. Mehrere mächtige Männer rund um Maduro scheinen zu einem Seitenwechsel bereit gewesen zu sein und schreckten erst in letzter Minute davor zurück.
Ein Überraschungscoup Guaidós war, dass ihm die Befreiung des seit mehreren Jahren inhaftierten und seit 2017 in Hausarrest sitzenden führenden Oppositionellen Leopoldo López gelang. Dabei spielte der Geheimdienst Sebin mit. Gemeinsam mit López zeigte sich Guaidó auf einem Luftwaffenstützpunkt, López beantragte später Asyl in der spanischen Botschaft. Sebin-Direktor Manuel Ricardo Christopher Figuera, der López' Freilassung offenbar zugelassen hatte, wurde von Maduro entlassen und ist geflüchtet. Später schrieb der General in einer Mitteilung, dass Mitglieder des Regimes über ein Ende der Maduro-Herrschaft verhandelten, „in ihrem Eigeninteresse“. Er deutet damit an, dass hochrangige Kreise keine Lust haben, mit Maduro unterzugehen.
In der venezolanischen nicht-regierungsnahen Presse kursierten verschiedene Berichte, wonach zwischen Guaidó und Regimevertretern über eine „geteilte“ Regierung verhandelt worden sei. Guaidó wäre Präsident geworden, Maduros derzeitiger Verteidigungsminister Vladimir Padrino López und der Vorsitzende des Obersten Gerichtshofs Maikel Moreno, sollten ihre Posten behalten. Armeeminister Padrino (das spanische Wort El Padrino heißt übersetzt „Der Pate“) gilt als starker Mann in der Maduro-Regierung, er ist definitiv einer der wichtigsten Strippenzieher. Drei Tage nach Guaidós gescheiterter Operation sprach Padrino von einem „dummen, lächerlichen Angebot“.
Jesuiten-Universität ist intellektuelles Zentrum
Auch aus der Kirche gibt es Berichte, wonach sich Mitglieder von Maduros Regierung absetzen wollen. Mario Moronta, der Bischof von San Cristóbal, sagte am Sonntag, dass Regierungsmitglieder an die Türe der Bischofskonferenz geklopft hätten und über die Möglichkeit eines Kirchen-Asyls verhandelt hätten, falls das Regime fallen sollte. Teil des Plans der Opposition um Guaidó, der sich „Plan País“ (Plan für das Land) nennt, ist ein Amnestieangebot für hochrangige Militärs und Regierungsmitglieder, um sie zum Seitenwechsel zu bewegen. Der Plan wurde zu großen Teilen in der katholischen Andrés Bello Universität, einer Jesuiten-Hochschule, entworfen. Die UCAB ist eines der intellektuellen Zentren, das den Weg zu einem post-chavistischen Venezuela skizziert. Angesichts der offenen Parteinahme der Kirche für die Opposition wachsen auch die Gefahren für Kirchenvertreter. Die Bischofskonferenz beklagte am 2. Mai in einer Stellungnahme die gewaltsame Niederschlagung der Proteste und verlangte die Freilassung von hunderten Inhaftierten. Scharf verurteilte sie den Angriff auf eine Kirche in der Diözese San Cristóbal durch etwa vierzig Nationalgardisten, die während einer Freitagsmesse mit Motorrädern in das Gotteshaus eingedrungen waren und mit Tränengas herumschossen.
Unerträglich ist die Lage in Venezuela für die breiten Massen vor allem wegen der sich verschärfenden Wirtschaftskrise geworden. Das Wohlstandsniveau in dem ölreichen Staat ist in den vergangenen sechs Jahren um fast zwei Drittel gesunken, seit Maduro von der verstorbenen Sozialisten-Ikone Hugo Chávez die Regierung übernahm. Es herrscht Hyperinflation, die gegenwärtig etwa 1,6 Millionen Prozent erreicht. Breite Bevölkerungskreise sind völlig verarmt.
Humanitäre Lage ist desaströs
Laut der Studie zu den Lebensbedingungen Encovi, die von der UCAB erstellt wird, benötigen 3,9 Millionen Haushalte sofortige humanitäre Hilfe. Angesichts der desaströsen Lage sind schon 3,5 bis vier Millionen der ehemals 32 Millionen Venezolaner ausgewandert, die meisten in Nachbarländer wie Kolumbien. Dass die Armeespitze bislang treu zu Maduro hält, erklären Beobachter auch mit der privilegierten Stellung der Generalität. Unter dem chavistischen Regime wurde die Armeeführung aufgebläht. Es gibt rund 2 000 Generäle (gut zehnmal so viele wie die Bundeswehr in Deutschland hat), die weitgehend ideologisch auf Linie mit dem chavistischen Regime sind.
Sie haben auch die Kontrolle über die lukrativen Industrien, vor allem die Ölindustrie, übernommen; zudem sind sie mit der Verteilung der knappen Lebensmittel und der Devisenreserven betraut.
Das schafft vielfältige Möglichkeiten zur Korruption. Laut Ex-Ministern von Chávez wurden dreistellige Milliardenbeträge durch Regimeangehörige veruntreut. Einigen werden auch Drogengeschäfte vorgeworfen.