Wenn er eine Botschaft an das christliche Amerika senden wollte, so kam sie nicht überall an. Die Sache mit der Bibel verlief für Donald Trump nicht wie geplant. Mehrere Minuten posierte der US-Präsident mit einem in schwarzes Leder gebundenen Exemplar vor der St. John’s Church, einer Episkopalkirche, nur wenige Schritte vom Weißen Haus entfernt. Mal hielt er das Buch direkt vor die Brust gepresst, mal wie eine Trophäe in seiner Rechten, den Arm nach oben gestreckt. Fotografen schossen Fotos, Journalisten stellten ein paar Fragen. Dann zogen der Präsident und sein Tross wieder davon. „Er hat kein Gebet gesprochen, nicht Gott angerufen, sondern die Bibel wie eine Waffe hochgehalten.“ Mit dieser kritischen Einschätzung steht Stephen Schneck, langjähriger Professor an der Catholic University of America und derzeitiger Leiter der Lobbyorganisation „Franciscan Action Network“, nicht alleine.
Mehrere prominente US-Katholiken und Vertreter anderer Glaubensgruppen waren von Trumps Auftreten irritiert. Insbesondere, da er zuvor mit Gummigeschossen und Tränengas gegen Demonstranten auf dem Weg zu der historischen Kirche vorgegangen war, in der schon der Gründervater James Madison gebetet hatte. Trump habe damit die doppelte Botschaft senden wollen, dass er den Demonstranten überlegen sei und die Religion auf seiner Seite habe, so Schneck, der den Demokraten nahesteht und im Wahlkampf einst Barack Obama unterstützte, gegenüber dieser Zeitung.
Trump ist schon im Wahlkampfmodus
Die Vereinigten Staaten sind nun schon seit Wochen in Aufruhr, genauer gesagt seit dem 25. Mai. An dem Tag war der Afroamerikaner George Floyd bei einem brutalen Einsatz von dem weißen Polizisten Derek Chauvin getötet worden, der minutenlang auf seinem Nacken kniete. Landesweit kommt es seitdem zu massiven, teils auch gewaltsamen Protesten gegen Rassismus und exzessive Polizeigewalt – und auch gegen einen Präsidenten im Weißen Haus, der nach Ansicht vieler das aufgepeitschte Klima nicht befriedet, sondern mit Worten und Taten weiter Öl ins Feuer gießt.
Trump freilich befindet sich schon seit längerem im Wahlkampfmodus. Die Tat an sich verurteilte er zwar, nannte aber die Protestierenden pauschal Linksradikale, Terroristen und Verbrecher – zeitweise drohte er, das Militär gegen sie einzusetzen. Doch die Solidarisierung mit den Protesten ist nicht gering, auch im religiösen Milieu. Der republikanische Amtsinhaber ist auf die Unterstützung christlicher Wähler angewiesen, wenn er sich im November eine weitere Amtszeit sichern will. Zur Erinnerung: 81 Prozent der Evangelikalen und 51 Prozent der Katholiken stimmten 2016 für ihn.
Ein Phänomen zieht sich durch Trumps Präsidentschaft: Individuelle Ereignisse oder Handlungen des republikanischen Amtsinhabers beeinflussen seine Zustimmungswerte kaum. Unterm Strich trifft dies auch auf den Zuspruch aus dem religiösen Lager zu. Diejenigen, die Trump schon länger kritisch sehen, waren auch diesmal mit kritischen Wortmeldungen zur Stelle. Unter ihnen der bereits zitierte Stephen Schneck, der Trump vorwirft, die Rassenunruhen zu verschärfen, um die Wahl zu gewinnen. „Indem er die Wut seiner militantesten Unterstützer anfacht, hofft er vermutlich darauf, seine Basis stärker zu mobilisieren und gleichzeitig seine Gegner von den Wahlurnen fernzuhalten“, so der ehemalige Washingtoner Professor. Der Vorwurf, der immer wieder zu hören ist, insbesondere aus dem liberalen Milieu: Trump missbrauche den Glauben und religiöse Symbole für seine eigenen politischen Zwecke. Der Präsident dürfte die St. John’s Church allerdings bewusst aus dem Grund gewählt haben, da dort in der Nacht zuvor von Demonstranten Feuer gelegt worden war.
Washingtoner Erzbischof als entschiedenster Kritiker
Nur zwölf Stunden nach seiner Bibel-Pose gab der Präsident in den Augen mancher abermals Anlass für Kritik. Zusammen mit seiner Ehefrau Melania besuchte er einen Schrein für den heiligen Johannes Paul II. in der US-Hauptstadt und legte einen Kranz nieder – ein seit längerem geplanter Besuch zum Gedenken an den polnischen Papst, der im Mai seinen 100. Geburtstag gefeiert hätte, wie es offiziell hieß. Wieder entstanden dabei hübsche Fotos – das lächelnde Ehepaar Trump im Vordergrund, dahinter die Statue des Papstes. Bereits während Trumps Auftritt vor der Gedenkstätte kam es zu Protesten. Der Washingtoner Erzbischof Wilton Gregory, der selbst Afroamerikaner ist, verurteilte die Aktion deutlich. Eine katholische Einrichtung lasse sich in einer Weise missbrauchen und manipulieren, „die gegen unsere religiösen Prinzipien verstößt“, schrieb er in einem längeren Statement.
Es gibt aber auch Stimmen, die Trump nicht vorschnell für seinen Gebrauch religiöser Symbolik verurteilen wollen, wie etwa R. R. Reno, Theologe und Herausgeber der einflussreichen Online-Zeitschrift „First Things“. Gegenüber der „Tagespost“ weist er darauf hin, dass es eine „leidige, aber sehr lange Tradition“ sei, Religion für politische Zwecke zu nutzen – nicht nur in den Vereinigten Staaten. Trump sei aber weiterhin ein Symbol für die tiefe Spaltung der Gesellschaft, die seinen Wahlsieg überhaupt erst ermöglicht habe. Der bekannte katholische Journalist und EWTN-Moderator Raymond Arroyo hingegen ging sogar so weit, Trump in einer Linie mit dem Einsatz Johannes Pauls II. gegen den Kommunismus zu sehen. Dass der Washingtoner Erzbischof Trumps Auftritt an dem Denkmal derart scharf ablehnte, kritisierte Arroyo.
Nach Trumps Auftritt zeigte sich auch die konservative Laienorganisation der Kolumbusritter, die den Schrein verwaltet, solidarisch mit den Antirassismus-Protesten. Der Vorsitzende Carl Anderson forderte alle Bürger dazu auf, für das Land „einen neuen Weg zu ebnen, frei von Diskriminierung und Hass“. Die Ritter stünden „an der Seite von Papst Franziskus und bitten inständig alle Menschen, ihre Wut und ihren Wunsch nach Gerechtigkeit auf gewaltfreiem Weg auszudrücken, um die Sünde des Rassismus zu beenden“. Der Papst hatte sich angesichts der Unruhen in den USA „sehr besorgt“ geäußert. Rassismus dürfe man weder tolerieren noch die Augen verschließen. Im Hinblick auf die Gewalt bei Protesten betonte Franziskus zugleich, diese sei „selbstzerstörerisch und kontraproduktiv“.
"Je konservativer die Einstellung, desto eher wird
vor Gewalt und Plünderungen bei den Protesten gewarnt,
während dieser Aspekt bei liberalen Christen
manchmal eher in den Hintergrund rückt"
Der „First Things“-Herausgeber und konservative Katholik Reno sieht führende christliche Vertreter vereint in ihren Forderungen nach einem friedlichen Zusammenleben von Schwarzen und Weißen. Unterschiede würden am ehesten in der Bewertung der Gewalt auf Seiten der Demonstranten zutagetreten. Diese werde von manchen deutlicher abgelehnt als von anderen. Reno spricht nicht explizit aus, was der Blick auf die Wortmeldungen insgesamt zeigt: Je konservativer die Einstellung, desto eher wird vor Gewalt und Plünderungen bei den Protesten gewarnt, während dieser Aspekt bei liberalen Christen manchmal eher in den Hintergrund rückt.
Ähnlich sieht es auch Stephen Schneck: Diejenigen Christen, die für Trump seien, würden den Kampf gegen Ungleichheit und Polizeigewalt weniger befürworten, während Trump-Gegner die Proteste eher unterstützten. Aber auch die US-Bischöfe, die sich bereits wenige Tage nach dem Tod von George Floyd eindeutig gegen Rassismus und Polizeigewalt positionierten, machten in ihrer Stellungnahme deutlich, dass der Kampf für die gerechte Sache stets nur mit friedlichen Mitteln erfolgen dürfe. Eine Position, die sowohl Schneck wie auch Reno ausdrücklich loben. Die Bischöfe würden eine geschlossene Front bilden, die friedliche Proteste unterstützt, um auf den systemimmanenten Rassismus aufmerksam zu machen, so Schneck. Reno spricht von einem „nuancierten Auftreten“ der US-Hirten, „indem diese das Ideal der Gleichheit aller Ethnien bekräftigen, gleichzeitig aber Gesetzlosigkeit verurteilen“.
Der wohl entschiedenste katholische Kritiker der Proteste und Unterstützer des Präsidenten dürfte einigen auch hierzulande wohlbekannt sein: Erzbischof Carlo Maria Viganò. Der ehemalige Apostolische Nuntius in den USA zeichnete in einem offenen Brief an Trump das biblische Bild vom Kampf zwischen den „Kindern des Lichts“ und den „Kindern der Dunkelheit“. Den Präsidenten und seine Unterstützer sieht Viganò freilich auf der Seite des Lichts – und er scheut nicht vor der These zurück, die Antirassismus-Proteste seien von denjenigen provoziert, die auch die Coronavirus-Pandemie für massive soziale Umwälzungen nutzen wollten. Das Ziel laut Viganò: die gesellschaftliche Ordnung aufzulösen und eine „Welt ohne Freiheit“ zu etablieren. Angesichts einer solchen Gemengelage stehe er selbstverständlich an der Seite des Präsidenten und unterstütze seinen Kampf gegen den „tiefen Staat“ mit Gebeten.
Auch unter Evangelikalen regt sich Kritik
Fernab jeglicher Endzeit-Rhetorik stehen viele Evangelikale weiterhin zu Donald Trump. Der Präsident des Kongresses christlicher Führer, Johnnie Moore, lobte Trumps Auftreten und dessen Botschaft: „Ich werde euch beschützen.“ Der US-Präsident habe sich der Anarchie widersetzt. Der Pastor Robert Jeffress aus dem texanischen Dallas, der zu Trumps wichtigsten evangelikalen Unterstützern zählt, bewertete dessen Verhalten als „völlig angemessen“. Indem er die Bibel hochgehalten habe, habe Trump daran erinnert, dass Gott den Rassismus hasse, „aber Gott hasst auch die Gesetzlosigkeit“. Und auch Franklin Graham, der Sohn des berühmten Pastors und Predigers Billy Graham, sprach von einem „wichtigen Statement“.
Doch Trump muss aufpassen: Denn das konservative Lager ist keineswegs geschlossen. Ein evangelikales Urgestein, der TV-Prediger Pat Robertson, warf dem Präsidenten beispielsweise vor, anstelle von Anteilnahme einen anderen Kurs eingeschlagen zu haben. Seine Botschaft, Recht und Ordnung durchzusetzen, sei in dieser Situation nicht geboten. Und Russell Moore, Präsident der Kommission für Ethik- und Religionsfreiheit der Southern Baptist Church, nannte Trumps Handeln moralisch falsch, als er friedliche Demonstranten mit Gummigeschossen und Tränengas vertreiben ließ. Ein bemerkenswertes Statement setzte zudem der konservative Erzbischof von St. Paul und Minneapolis, Bernard Hebda: Zusammen mit einigen weiteren katholischen Geistlichen nahm er an einem der Protestmärsche gegen Rassismus teil.
Nicht nur die Tatsache, dass vormals hartgesottene Unterstützer auf Distanz gehen, sollte Trump zu denken geben, sondern auch ein Blick auf die jüngsten Zahlen. Laut einer Erhebung des Public Religion Research Institute (PRRI) sprachen sich im März noch satte 77 Prozent der weißen Evangelikalen für Trump aus. Im Mai fiel der Wert auf 62 Prozent. Somit liegt er zwei Prozentpunkte unter den 64 Prozent weißer Evangelikaler, die den Präsidenten im Gesamtjahr 2019 unterstützten. Noch besorgniserregender ist die Tendenz für Trump unter weißen Katholiken. Während seine Zustimmungswerte im März noch bei 60 Prozent lagen, sanken sie im April auf 48 und im Mai sogar auf 37 Prozent. Zum Vergleich: Im Jahresmittel 2019 sprachen sich durchschnittlich 49 Prozent der weißen Katholiken für Trump aus.
Trump verliert in seiner Partei an Rückhalt
Interessant ist zudem, dass der Anteil weißer Evangelikaler an der Gesamtbevölkerung laut PRRI im Vergleich zum letzten Wahljahr 2016 von 17 auf 15 Prozent gesunken ist. Dies mag zwar marginal erscheinen. In manchen Bundesstaaten betrug Trumps Vorsprung jedoch nur wenige tausend Stimmen – Detailwerte könnten im November somit wahlentscheidend sein. Darüber hinaus deuten mehrere Umfragen darauf hin, dass der Ex-Bauunternehmer in seiner Partei grundsätzlich an Rückhalt verliert. Einer aktuellen Erhebung von Reuters/Ipsos zufolge sind nur noch 46 Prozent der Republikaner der Meinung, das Land befinde sich auf dem richtigen Weg. Trumps Beliebtheitswerte bewegen sich indes noch immer bei etwa 40 Prozent.
Symptomatisch für die Dynamik, was Trumps Annäherungsversuche an religiöse Milieus und deren Rezeption angeht, war eine weitere Aktion des Präsidenten, unmittelbar nach seinem Besuch am Schrein für Johannes Paul II.: Er unterzeichnete eine Verordnung, mit der die internationale Religionsfreiheit zu einer „außenpolitischen Priorität der Vereinigten Staaten“ erhoben wird. Das Außenministerium erhält somit den Auftrag, Religionspolitik Vorrang einzuräumen. Für Befürworter des Präsidenten ist die Direktive ein weiterer Beleg dafür, dass Trump seinem religiösen Klientel Zählbares vorlegt. Kritiker dürften dahinter eher die Bemühungen erkennen, von seinen derzeitigen innenpolitischen Problemen abzulenken.
Zuerst das Amtsenthebungsverfahren, dann die Corona-Pandemie, nun die Rassenproteste: Wie sich das turbulente (vorerst) letzte Amtsjahr Trumps auf eine potenzielle Wiederwahl auswirken wird, ist kaum abzuschätzen. Ein entscheidender Faktor könnte sein, in welchem Maße es den beiden Parteien, Republikanern und Demokraten, gelingt, ihre Anhänger zu mobilisieren. Seine religiöse Kernwählerschaft dürfte Trump mit seinem jüngsten Auftreten wohl kaum verprellt haben. Das amerikanische Monatsmagazin „The Atlantic“ brachte es in einem Essay über Trumps Gebrauch religiöser Symbolik auf den Punkt: „Die meisten weißen konservativen Christen wollen keine Frömmigkeit von diesem Präsidenten; sie wollen Macht.“ Trump könne ihnen geben, was sie wollten, und sie in einem säkularen Zeitalter wieder in den Mittelpunkt des amerikanischen Lebens rücken.
Hoffnung, Roe vs. Wade umzukehren
Etwa in Sachen Lebensschutz: Die Trump-Regierung förderte die Pro-Life-Position bereits mit mehreren Gesetzen und Dekreten. Und nicht zuletzt die Ernennung konservativer Richter wie Brett Kavanaugh steigerte die Hoffnung seiner Anhänger, möglicherweise sogar das Grundsatzurteil Roe vs. Wade rückgängig machen zu können. Viele konservative Christen, so scheint es, haben sich schon länger damit abgefunden, dass der Preis darin besteht, Donald Trump einfach hinnehmen zu müssen, wie er ist.
In der Praxis erzeugt das dann zuweilen etwas befremdliche Szenen. Wie etwa Trump vor der St. John’s Church mit seiner Bibel. Die sich auf Nachfrage eines Journalisten nicht als „seine“, sondern als „eine“ Bibel herausstellte. Und der die Posse allen Aufruhrs zum Trotz mit einem bekannten Mantra unterlegte: „Wir haben das großartigste Land der Welt. Und wir machen es noch großartiger.“
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