Bonn

Unsere Parlamente sind müde

Verschiebt sich die Macht immer mehr in Richtung Exekutive? Ein Interview mit dem Rechtswissenschaftler Philipp Bender.
Coronavirus - Bund-Länder-Beschlüsse
Foto: Fabrizio Bensch (Reuters Pool) | Sie verkünden stets die Ergebnisse: Berlins Regierender Bürgermeister Michael Müller (SPD, l.), Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU, Mitte) und Bayerns Ministerpräsident Markus Söder (CSU) verlassen die ...

Herr Bender, seit Beginn der COVID-Krise kommunizieren Länderchefs und Kanzlerin verstärkt in einer Form, die man als „de-facto Gremium“ bezeichnen kann – und das weitreichende Entscheidungen trifft. Wie ist das verfassungsrechtlich zu bewerten?

Dieses „Gremium“ ist in der Tat nichts weiter als eine Telefonkonferenz, an der neben den infektionsschutzrechtlich eigentlich zuständigen Regierungschefs der Länder auch die Bundeskanzlerin teilnimmt. Als (Verfassungs-)Organ ist es im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland nicht vorgesehen. Im Infektionsschutzgesetz des Bundes findet sich zwar eine neu eingefügte Regelung, wonach im Fall einer Überschreitung eines Schwellenwertes von Neuinfektionen „bundesweit abgestimmte […] Schutzmaßnahmen anzustreben“ sind, diese geht jedoch rechtlich ins Leere, da kein Adressat dieser Pflicht genannt ist.

"Es wird einem ,Pandemie-Zentralismus' das Wort geredet,
der im bundesstaatlich orientierten Grundgesetz keinen Halt hat"

Ganz praktisch geht es darum, sogenannte „Alleingänge“ auf der Ebene einzelner Bundesländer zu vermeiden – was, wenn wir die Anti-Corona-Regelungen in Nordrhein-Westfalen und Bayern vergleichen, nur leidlich gut funktioniert hat. Dabei ist es sprachlich wie rechtlich zweifelhaft, von „Alleingängen“ zu reden, denn nach dem Infektionsschutzgesetz des Bundes sind die Länder abschließend ermächtigt, durch Rechtsverordnungen Ge- und Verbote zur Pandemiebekämpfung zu erlassen. Es wird einem „Pandemie-Zentralismus“ das Wort geredet, der im bundesstaatlich orientierten Grundgesetz keinen Halt hat.
Ein weiteres Beispiel für diese unheilvolle Tendenz: Bei den ersten Tagungen dieser Art dominierte der Begriff „Ministerpräsidentenkonferenz“ die Schlagzeilen und den politischen Alltag. Seit Ende letzten Jahres liest und hört man fast nur noch von „Bund-Länder-Konferenzen“ und allerorts wird ihr Output hochtrabend als „Bund-Länder-Beschlüsse“ präsentiert. Der Bund ist gewissermaßen ins Scheinwerferlicht gedrängt worden – von welcher Ebene auch immer. Hier deutet sich an, dass mit der semantischen auch eine symbolisch-systemische Verschiebung eingesetzt hat.

Wie ist dies im Zusammenhang mit der zunehmenden Schwächung der Parlamente einzuordnen?

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In der parlamentarischen Demokratie gilt die Abhängigkeit des Regierungshandelns vom Vertrauen des Parlaments als Dogma. Unmittelbare Legitimation von Herrschaft stellt sich durch Wahlen zum Parlament ein. Diese Legitimation wird an die Exekutive durch die parlamentarische Regierungsbildung und durch ihre (Rück-)Bindung an das Parlamentsgesetz „vermittelt“. Sämtliche Regierungen – auf Bundes- wie Landesebene – sind damit im Vergleich zu den Parlamenten „nur“ mittelbar demokratisch legitimiert.

Vor dem Hintergrund des grundgesetzlichen Demokratieprinzips „dünnt“ sich die sogenannte „demokratische Legitimationskette“ bei einem reinen Exekutivgremium wie den besagten Telefonkonferenzen aus. Selbst wenn sich Regierungserfolge bei der Krisenbewältigung einstellen sollten, verschaffen sie dieser Machtkonzentration keine „Sonderlegitimation“. Die faktische Machtkonzentration eines – zumal verfassungsrechtlich nicht vorgesehenen – Exekutivgremiums geht also immer graduell zu Lasten des Prinzips der Volksherrschaft.

Dies führt erstens zu der Forderung, die durch Hektik geprägte Regierungspraxis der Virusbekämpfung in Deutschland an parlamentarisch stärker vorgegebene, weitestgehend „ausbuchstabierte“ gesetzliche Eingriffsgrundlagen zu binden. In der intensivierten gerichtlichen Kontrolle haben sich die vage formulierten Regelungen im Infektionsschutzgesetz nicht bewährt, um hinreichende Ermächtigungsgrundlage für die mit weitreichenden Grundrechtseingriffen verbundenen Rechtsverordnungen der Länder zu sein. Es bedurfte und bedarf bis heute einer (bundes-)parlamentsgesetzlichen Verdichtung der Maßstäbe für den Verordnungserlass.

"Das Ideal der parlamentarischen Demokratie lautet:
die Bindung jedes Exekutivakts an einen konstitutiven Akt
der Zustimmung durch das Parlament, sei es Bundes- oder Landtag"

Zweitens lautet zumindest das Ideal der parlamentarischen Demokratie: Die Bindung jedes Exekutivakts an einen konstitutiven Akt der Zustimmung durch das Parlament, sei es Bundes- oder Landtag. Dadurch werden demokratische Legitimationszusammenhänge gestärkt, da die Regierungen dem Kontrollzugriff von Bundestag und Landtagen stärker unterliegen würden, als dies bei der bisherigen Form des informellen Zusammenwirkens von Bundes- und Landesexekutiven in der Pandemiebekämpfung der Fall ist.

Welche Probleme erkennen Sie für die Zukunft, sollten sich diese Absprachen verstetigen?

Die Landtage und der Bundestag haben es in der Hand, derartige „Bund-Länder-Konferenzen“ zu unterbinden oder jedenfalls einzuschränken. Die Parlamente müssen sich ihre Beteiligungsrechte zurückerkämpfen. Mein Eindruck ist aber, dass die Parlamentarier in Bund und Ländern dafür zu müde sind; vielleicht auch politisch zu sehr unter Druck stehen.

Es ist aus Sicht von Exekutive und Legislative allzu bequem, die Ebenen und involvierten Organe des politischen Entscheidens so zu verflechten, dass die Zuschreibung von Verantwortung nicht mehr richtig gelingen kann. Demokratische Verantwortlichkeit kann lästig werden. Wir kennen das „Spiel über Bande“ auch aus der supranationalen Verflechtung zwischen der EU und dem Nationalstaat. Eine gesunde Demokratie lebt jedoch davon, dass bestimmte Herrschaftsebenen und -positionen für die Folgen ihrer Entscheidungen haftbar gemacht werden können.

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Die Etablierung von solchen vermeintlich „praktischen“ und „effizienten“ informellen Gremien wäre eine fatale Weichenstellung, die bloß zu neuen Pfadabhängigkeiten verleitet. Die Lebensfähigkeit des parlamentarischen Systems steht unter Druck.

Welche Rolle spielt die Kanzlerin? Könnten die Länder sich ohne sie abstimmen?

Staatsorganisationsrechtlich gibt es keine Pflicht, die Bundesregierung in Form der Bundeskanzlerin zu beteiligen. Was jedoch die politische Symbolik betrifft, so beziehen die zuweilen spöttisch als „Landesfürsten“ karikierten Länderregierungschefs aus dem bundesamtlichen, quasi-überparteilichen „Charisma“ der Bundeskanzlerin ein Mehr an Legitimation für ihre Landespolitik. Nach dem Motto: Wenn die Bundeskanzlerin bei Telefonkonferenzen zugeschaltet ist, dann kann „Alleingängen“ auf Länderebene vorgebeugt werden. Richtig ist: Jedenfalls können diese besser kaschiert werden.

"Es krankt nicht nur die parlamentarische Demokratie,
sondern auch der im Grundgesetz als tragendes
Staatsstrukturprinzip formulierte Föderalismus"

Die Person der Bundeskanzlerin verleiht auch dem letzten Gewurschtel der Landesregierungen, das bis zum heutigen Tag oft genug einen rechtlichen Flickenteppich nach sich zieht, eine Aura von verabredeter Harmonie und schlüssiger Planhaftigkeit. Ihre Rolle bei der ganzen Inszenierung ist also keine verfassungsrechtliche, sondern eine symbolische. Obwohl die Landesregierungen rechtlich gesehen die starke Kompetenz zur Regelung infektionsschutzrechtlicher Maßnahmen haben, stehen sie im bundesdeutschen Föderalismus symbolisch-politisch schwach da. Es krankt also nicht nur die parlamentarische Demokratie, sondern auch der im Grundgesetz als tragendes Staatsstrukturprinzip formulierte Föderalismus. Einmal mehr übrigens nicht aufgrund von zu vagen oder gar „schlechten“ verfassungsrechtlichen Vorgaben, sondern weil die handelnden politischen Akteure dem Geist des Grundgesetzes leichtfertig zuwiderhandeln.

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