Herr Professor Splett, der wohl bekannteste Ausspruch von Marx ist der von der „Religion als Opium des Volkes“. War es nicht naiv von Marx, anzunehmen, dass verbesserte Arbeitsbedingungen die Religion überflüssig machen?
Bei Marx hängt alles an der Unterdrückung der Arbeiter. Wenn diese Machtverhältnisse beseitig wären, dann würden wir die Freiheit erlangen, glaubte er. Auch die Religion ist für ihn Teil der Geschichte der Macht und würde überflüssig werden, wenn es keine Machtverhältnisse mehr gibt.
So kam Marx wohl auch auf die These, der Mensch mache die Religion und nicht die Religion den Menschen?
So ist es. Der eigentliche Kern der Entmächtigung der Menschen liegt nach seiner Auffassung in der Durchsetzung des Religiösen. Und vor allem Engels hat ihn wohl darauf gebracht, dass dies mit der Ausbeutung und die Unterdrückung der Arbeiter Hand in Hand geht.
Wie hängen die Gedanken von Ausbeutung und Religionskritik zusammen?
Durch seine Kritik an Ludwig Feuerbach hat Marx erkannt, dass es nicht nur um die einseitige Kritik an der Religion gehen könne, wie Feuerbach sie unternommen hat. Marx hält diesen Weg für falsch und stellt das Problem der Unterdrückung der Arbeiter in den Vordergrund.
War vor diesem Hintergrund eigentlich die Religionskritik notwendig?
Eigentlich nicht. Marx hat die Religion zwar kritisiert, aber das Problem war ihm eigentlich zu papieren und zu wenig realistisch. Die reale Situation ist tatsächlich die Unterdrückung im Frühkapitalismus, wie er das ja auch in England erlebt hat. Die Religionskritik hielt er zwar für richtig, aber dabei zu bleiben, wäre eben gerade falsch.
Marx hat ja wahrscheinlich als Materialist auch gar nicht die Erkenntnismittel, seine eigene Ideologie der Religionskritik zu durchschauen?
Da stimme ich zu. Die Religion hielt Marx schon für überholt und er hat aus seiner Sicht wahrgenommen, dass die Welt inzwischen anders aussieht. Daher sein Fokus auf die Unterdrückung der Arbeiter.
Wie stand der Jude Marx zum Judentum?
Sein Vater war ja zum Protestantismus konvertiert. Der junge Marx fragte sich, wie sich die Macht Gottes und die Selbstbestimmung des Individuums zueinander verhalten. Er kam zu dem Ergebnis, dass der allmächtige Gott die Selbstbehauptung des Menschen brechen kann. Auch schon in den Gedichten seiner Studienjahre wird deutlich, dass er die Religion beseitigen will, weil Gott einer ist, der seine Größe nur auf Kosten der Menschen gewinnen kann, um sich selbst zu behaupten. Und darum müsse sich der Mensch gegen diese Bedrohung aufbäumen und sie abschütteln. Auch sah er in der Philosophie der Jung-Hegelianer dieses prometheische Licht, wie Marx sagt, das nötig ist, um zu zeigen, dass diese Bedrohung haltlos ist. Für seine Religionskritik brauchte Marx einerseits den Bibelexegeten Bruno Bauer, aber er studiert auch die Philosophien von Hegel und Feuerbach.
Schauen wir auf die Zeit nach Marx. Geht von Marx die weitere Hauptlinie der Religionskritik aus, oder sind das eher Nietzsche oder Psychoanalyse, die dominierend werden?
Das ist eine schwierige Frage. Wenn man die Studenten der sechziger und siebziger Jahre betrachtet, so war es eher eine Mischung von all dem. Nietzsche und Freud haben Marx gewiss ergänzt in ihrer Religionskritik.
Können Sie etwas über den Unterschied der Marx-Rezeption in der Frankfurter Schule und dem Marxismus in Osteuropa sagen?
Das war ja der Schock für die Mitglieder der Frankfurter Schule, dass aus diesem Weg, den Marx eigentlich wollte, nämlich den Arbeitern zu helfen, in Russland nichts geworden ist, sondern dass daraus eine Diktatur wurde. Die Frankfurter Schule musste mit ansehen, dass Marx missbraucht wurde, um Menschen zu erpressen und zu unterdrücken. Also mussten die Frankfurter einerseits gegen das sowjetische System auftreten und andererseits gegen autoritär unterdrückte Deutsche mit dem Hintergrund des Nationalsozialismus. Dieser doppelte Kampf gab dann diese merkwürdige Mischung, die so schwierig ist.
Spielt denn die Religionskritik von Marx sonst heute eine Rolle? Etwa in der Befreiungstheologie?
Ich habe den Eindruck, dass das ein Stück verschwunden ist. Die Menschen in Lateinamerika hatten versucht, auf den humanistischen Marx zurückzugehen. Deswegen haben sie ja dann auch vor allem die frühen humanistischen Texte wie die sogenannten Pariser Manuskripte aufgenommen.
Wie ist es denn in Nordkorea oder China? Sehen Sie da noch eine enge Anlehnung an Marx oder ist das schon eher durch Mao geprägt?
Das halte ich eher für die asiatische Variante des Marxismus. Mao hat die Schriften von Marx für seine Zwecke umgedeutet, woraus der spezifische asiatische Kommunismus entstanden ist. Für Nordkorea gilt das ähnlich.
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