Interview

Susanne Schröter: Zwischen Anmaßung und Selbsthass

Für Ethnologie-Professorin Susanne Schröter leidet der Westen unter einem „Mythos der Omnipotenz“ und changiert so zwischen Hybris und Selbsthass. Droht er zu scheitern?
Habeck macht eine tiefe Verbeugung vor dem Handelsminister in Katar
Foto: Bernd von Jutrczenka (dpa) | Für Susanne Schröter ein schon ikonisches Bild für den Widerspruch zwischen Rhetorik und tatsächlichem Handeln: Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) macht bei seinem Besuch in Katar im vergangenen Jahr ...

Frau Professor Schröter, Sie stellen in Ihrem Buch die These auf, dass der Western zu scheitern drohe. Die Ursache dafür sehen Sie in seiner geistigen Situation. Sie beschreiben sie als eine Mischung aus Anmaßung und Selbsthass. Was meinen Sie damit?

Anmaßung wie Selbsthass nähren sich aus der gleichen Quelle, beides leitet sich von der Vorstellung ab, der Westen sei im Guten wie im Schlechten allmächtig. Nach dem Narrativ der Hybris bedeutet das, der Westen sei in der Lage, sein Demokratiemodell überall in der Welt zu installieren. Nach dem Narrativ des Selbsthasses ist der Westen für Armut, Kriege und Umweltkatastrophen in der ganzen Welt verantwortlich.

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Sie erkennen eine geringe Bereitschaft, sich von diesem „Mythos der Omnipotenz“ zu verabschieden.

Ja, denn es wird immer noch das Mantra beschworen, dass moderne offene Gesellschaften, wie sie der Westen verkörpert, überall in der Welt auf dem Vormarsch seien und sich auch mittelfristig durchsetzen würden. So verkündeten sowohl US-Präsident Joe Biden wie auch Bundesaußenministerin Annalena Baerbock, Wladimir Putin habe Angst davor, dass auch Russland von einer Demokratiebewegung erfasst und so seiner Herrschaft ein Ende bereitet werden könnte. Aber diese umgekehrte Domino-Theorie ist empirisch nicht haltbar.

"Geradezu ikonisch wirken die Bilder von Habeck,
der mit tief gebücktem Rücken die Hand des katarischen Handelsministers ergriff."

Tatsächlich ist es so, dass die Zustimmung für Putin in der Bevölkerung ungebrochen hoch ist. Seit 2000 liegt die Zustimmung mindestens bei 60 Prozent, manchmal werden sogar Spitzenwerte von 80 Prozent erreicht. Selbst im April 2022 lag sie trotz der Sanktionen bei 82 Prozent. Dann das Beispiel Afghanistan – es steht für die auf ganzer Linie gescheiterten Versuche westlicher Länder, in einem Land des globalen Südens im Rahmen einer militärischen Intervention ein demokratisches System zu implementieren. Der überwiegende Teil der afghanischen Bevölkerung empfand die Demokratie als ein oktroyiertes System, das mit der eigenen Kultur nicht kompatibel ist.

Stichwort Zeitenwende – der Begriff steht dafür, dass die westlichen Demokratien künftig Autokratien gegenüber enger zusammenstehen wollen. Man habe aus den Fehlern gegenüber Russland gelernt und in Zukunft solle die Außenpolitik stärker an den westlichen Werten und nicht an einem kurzfristigen ökonomischen Kalkül ausgerichtet werden. Nach Ihrer Analyse klaffen hier Rhetorik und tatsächliche Politik auseinander. Wo zeigt sich das?

Zum Beispiel an der Energiepolitik. Bundesaußenministerin Annalena Baerbock hat die sogenannte „feministische Außenpolitik“ zu ihrer Leitlinie erklärt. Im letzten Jahr aber reiste Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck nach Katar und die Vereinigten Arabischen Emirate, um dort um für eine Energiepartnerschaft zu werben. Geradezu ikonisch wirken die Bilder von Habeck, der mit tief gebücktem Rücken die Hand des katarischen Handelsministers ergriff. In Katar ist der Islam Staatsreligion und es gilt die Scharia.

Für die Frauen bedeutet das, dass sie ein Leben lang unter der Vormundschaft ihres Mannes oder eines männlichen Verwandten stehen und keine selbstständigen Entscheidungen treffen können. Ähnlich ist die Situation auch in den Vereinigten Arabischen Emiraten. Oder auch in Saudi-Arabien und dem Iran. Für eine „feministische Außenpolitik“ sind solche Staaten als Energiepartner also denkbar schlecht geeignet. Indem darüber aber einfach hinweggegangen wird, zeigt sich hier in Deutschland besonders eklatant der Widerspruch zwischen Rhetorik und dem tatsächlichen Handeln.

Diese Paradoxien sind logisch eigentlich nicht nachzuvollziehen. Nach Ihrer Analyse wurzeln sie letztlich in einem ideologisierten Debattenklima, das durch Tabuisierungen bestimmt ist. Und damit sind wir bei der anderen Seite der Medaille: dem westlichen Selbsthass. Wo kommt dieser Selbsthass her, wo liegen die ideologischen Wurzeln?

Seit Beginn des 21. Jahrhunderts wird der Westen von identitätspolitischen Aktivisten herausgefordert. Sie versuchen, seine geistigen Fundamente zu delegitimieren und die Gesellschaft vor sich herzutreiben. Diese Aktivisten sind akademisch geschulte, politisch versierte und bestens vernetzte Personen, die sich selbst als unterprivilegierte Opfer inszenieren oder vorgeben, im Namen einer selbst ernannten Opfergruppe zu sprechen. Das alles geht zurück auf eine Strömung, die vor allem an den USA sehr erfolgreich war, aber heute auch an den europäischen Universitäten sehr einflussreich ist: die postkoloniale Theorie.

"Der Westen ist heute, obwohl historisch mit dem europäischen Kontinent
verwurzelt, kein geografisch fixierter Begriff,
sondern an erster Stelle eine Idee und ein Lebenskonzept."

Nach ihr ist der Westen noch immer vom kolonialen Denken und durch einen strukturellen Rassismus geprägt. Die Opfer sind die indigenen Völker, die Länder des globalen Südens, die Muslime oder die Migranten, die in den westlichen Gesellschaften leben. Daran schließen sich Forderungen an: Dieser Zustand sei nicht länger haltbar. Diesen Opfern des Westens müsse nun endlich Gerechtigkeit widerfahren. In der Konsequenz bedeutet dies, dass jede Kritik an diesen „Opfern“ unterbunden wird. Nach der radikalsten Lesart heißt das dann sogar: Die Angehörigen der vermeintlich dominanten Gruppen dürfen keine Führungspositionen mehr einnehmen. Oder etwa für den universitären Bereich: Weiße Männer dürfen nicht mehr publizieren.

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Die Ideologie ist das eine. Aber stehen dahinter nicht auch konkrete Machtinteressen?

Identitätspolitik ist auch ein Geschäftsmodell. Um die Entwicklung verstehen zu können, müssen wir in die 60er Jahre zurückgehen und uns die Studentenbewegung anschauen. Schon damals wurden Seminare gestört oder missliebige Redner daran gehindert, die Universität zu einem Vortrag zu betreten. Der Unterschied zu heute ist, dass sich damals aber nur eine Minderheit der Dozenten mit den Revoluzzern solidarisiert hat. Heute hingegen sind Professoren, wissenschaftliche Mitarbeiter und Studenten im politischen Dogmatismus einer Meinung. Da sie sich selbst als „links“ empfinden, halten sie alle anderen Positionen für „rechts“.

Wir haben in den letzten Jahren eine definitorische Entgrenzung des Begriffes „rechts“ erlebt. Er wurde jetzt mit Rassismus, Sexismus und anderen moralisch anstößigen Positionen gleichgesetzt, die beliebig zugeordnet werden konnten. Ausgangsorte für diese Entwicklung waren die Universitäten, vor allem die Geisteswissenschaften. Dort wird über die Gesellschaft reflektiert, werden Missstände analysiert und Utopien erdacht. All das macht die Vertreter dieser Disziplinen offen für die postkoloniale Theorie. Die Absolventen dieser Studiengänge arbeiten in den Medien, in Verlagen, im Lehramt, in Stiftungen, in der Politik, in Nichtregierungsorganisationen oder in sozialen Berufen.

Solche Tätigkeiten werden zwar nur mäßig entlohnt, aber sie sind von großem Einfluss. Denn hier wird die öffentliche Meinung gemacht und die Jugend erzogen. Von diesen Institutionen aus begann der Siegeszug der postkolonialen Theorie. Heute geht es vor allem um den Kampf um Ressourcen. Die Aktivisten kämpfen dafür, dass die Angehörigen ihrer Identitätsgruppe Gelder, Jobs und Deutungshoheit bekommen und verdrängen dafür andere.

Für Sie ist es ja noch eine Frage, ob der Westen scheitert. Was ist zu tun, damit die Antwort nicht irgendwann negativ ausfallen muss?

Der Westen erlebt eine multidimensionale Krise. Außenpolitisch wird er von expandierenden totalitären Staaten bedroht. Innenpolitisch stellen der Islamismus sowie illiberale Bewegungen von linker wie von rechter Seite die größten Herausforderungen dar. Der Westen ist heute, obwohl historisch mit dem europäischen Kontinent verwurzelt, kein geografisch fixierter Begriff, sondern an erster Stelle eine Idee und ein Lebenskonzept.

Wenn wir den Aufgaben gerecht werden wollen, die sich jetzt stellen, helfen keine wohlgesetzten Reden über die eigene Großartigkeit, sondern nur ein nüchterner Blick auf die Ursachen der Misere.


Susanne Schröter
Foto: FFGI | Susanne Schröter ist Leiterin des Frankfurter Forschungszentrum Globaler Islam.

Zur Person

Susanne Schröter, Jahrgang 1957, lehrt an der Frankfurter Goethe-Universität. Im November 2014 gründetet sie das Frankfurter Forschungszentrum Globaler Islam und leitet es seitdem. Sie zählte auch 2021 zusammen unter anderem mit Geschichtsprofessor Andreas Rödder, der ehemaligen Bundesfamilienministerin Kristina Schröder und Ahmad Mansour zu den Initiatoren von „Republik 21“, einer Organisation, die sich als „Denkfabrik für neue bürgerliche Politik“ versteht. In ihrem aktuellen Buch „Global gescheitert? Der Westen zwischen Anmaßung und Selbsthass“ (Herder, 2022) analysiert Schröter die geistige Situation des Westens vor dem Hintergrund der politischen Herausforderungen, mit denen dieser sowohl von außen als auch von innen konfrontiert wird. Schröters Forschungsschwerpunkte sind unter anderem Islamismus und Dschihadismus. 2019 veröffentlichte sie: „Politischer Islam-Stresstest für Deutschland“.

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