Muss das so sein? Dass man einen ehemaligen Kanzler nicht nur drängt, sich aus der Nähe eines kriegführenden Diktators zurückzuziehen, sondern dass man ihn auch noch persönlich zu demütigen versucht? Gerade so gehen wir mit Gerhard Schröder um. Natürlich soll er sich aus jenen russischen Staatsunternehmen zurückziehen, die ihm viel Geld, uns aber schmerzliche Abhängigkeit von Russland beschert haben. Gewiss braucht er keine staatlich bezahlten Berliner Büros und Mitarbeiter, wenn er nichts mehr für unser Land tut. Und Strafe soll schon dafür sein, dass er Moskaus neuen Zaren hofiert und zu dessen Staatsverbrechen in Krieg und Frieden geschwiegen hat.
Auch Merkel traf sich oft mit Putin und Chinas Diktatoren
Doch war seine Russland-Politik nicht genau jene, die Angela Merkel unter großem Beifall nicht nur ihrer eigenen Partei, sondern auch von SPD, Grünen und grünliberalen Medien fortsetzte? Traf sich Schröders Nachfolgerin im Amt nicht fast so oft mit Putin wie mit Chinas Diktatoren? Verkauften nicht andere Politiker deutsche Gasspeicher an russische Gaskonzerne, deren Gremien Schröder vorsaß? War es nicht eine sozialdemokratische Ministerpräsidentin, die Nord Stream 2 – Deutschlands Geldleitung nach Russland – unter dem absichtlich täuschenden Namen einer „Klima- und Umweltstiftung“ gegen internationalen Widerstand doch noch ermöglichen wollte?
Offenbar soll da wieder einmal ein Sündenbock in die Wüste gejagt werden – gleichsam als Rache für nervendes Alpha-Tier-Gehabe. Doch ohne Dankbarkeit dafür, dass Schröders Agenda 2010 die Voraussetzungen für viele Jahre unseres Wohlstands schuf. Man sagt, den Charakter eines Volkes erkenne man daran, wie es mit seiner geschlagenen Armee umgehe – und daran, wie mit einstmals Großen, die in Ungnade gefallen sind. In beiden Fällen zeigt das Verhalten der Deutschen allzu wenig Gutes an ihnen.
Der Autor lehrte bis zu seinem Ruhestand 2019 als Professor für Politikwissenschaft an der Technischen Universität Dresden.
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