Politik

Streit um den Beratungsschein

Eine historische Rückschau auf einen nur teilweise beigelegten Konflikt. Von Stefan Rehder
Beratungsstelle "Donum Vitae"
Foto: dpa | Im Zentrum des Konfliktes: Die Beratungsstellen von „Donum Vitae“.

Der Streit um den Beratungsschein gehört zweifellos zu den traurigsten Kapiteln der jüngeren deutschen Kirchengeschichte. Voraus ging ihm – und das ist für sein Verständnis in mehrfacher Hinsicht bedeutsam – eine Neuordnung der deutschen Abtreibungsgesetzgebung. Die war insofern tatsächlich erforderlich und unumgänglich geworden, als bei den Verhandlungen zum Einigungsvertrag im Vorfeld der deutschen Wiedervereinigung die Verhandlungsführer Günther Krause, der die DDR vertrat, und Wolfgang Schäuble, der für die Bundesrepublik verhandelte, auf diesem Feld keine Einigung für eine gesamtdeutsche Regelung erzielen konnten. Am Ende verständigten sich beide Seiten darauf, die im Osten Deutschlands geltende Fristenregelung und die im Westen praktizierte Indikationsregelung zunächst jeweils weiter bestehen zu lassen und den ersten gesamtdeutschen Bundestag mit der Erarbeitung einer für alle geltenden Regelung bis zum 31. Dezember 1992 zu beauftragen.

Am 26. Juni 1992 beschloss der erste gesamtdeutsche Bundestag in namentlicher Abstimmung mit 355 gegen 283 Stimmen und bei 16 Enthaltungen einen Gruppenantrag, der eine Fristenregelung mit Beratungspflicht vorsah. Noch am selben Tag wiederholte das Zentralkomitee der deutschen Katholiken (ZdK), das den von SPD und FDP initiierten Gesetzentwurf in der vorausgegangenen gesellschaftlichen Debatte bereits mehrfach öffentlich heftig kritisiert und als „ethisch unverantwortlich und verfassungswidrig“ gebrandmarkt hatte, seine harsche Kritik und erklärte, alles unternehmen zu wollen, um diesen Beschluss doch noch zu Fall zu bringen.

Zuvor hatten die Deutsche Bischofskonferenz und das ZdK in einer gemeinsamen Stellungnahme auch die in dem Entwurf vorgesehene Beratungsregelung heftig attackiert und ihr attestiert, sie gebe lediglich vor, dem Lebensschutz zu dienen. Angesichts der grundsätzlichen Preisgabe des Lebensschutzes binnen der ersten drei Monate habe sie jedoch nur eine „Alibifunktion“. Auch der Beratungsschein als solcher wird kritisiert, und zwar weil der Gesetzentwurf die Beratungsstellen „zur Ausstellung einer Beratungsbescheinigung“ verpflichte, „die zur einer wesentlichen Voraussetzung für die Straffreiheit“ werde. Anstelle des Schwangerschaftsabbruchs würde „das Unterlassen der Beratung“ bestraft. Auf diese Weise sollten die Beratungsstellen „in ein Verfahren eingebunden werden, das in ethisch unverantwortlicher und verfassungswidriger Weise den Schutz des menschlichen Lebens preisgibt“. Eine derartige „Perversion der Beratungsarbeit“ dürfe „nicht hingenommen“ werden.

Gut zwei Wochen vor der Entscheidung des ersten gesamtdeutschen Bundestags erklärte auch der damalige Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz (DBK), der Mainzer Bischof Karl Lehmann, noch, katholische Beratungsstellen könnten sich nicht in ein Verfahren einbinden lassen, „das die Ausstellung einer Beratungsbescheinigung zu einer wesentlichen Voraussetzung für die straffreie Tötung eines ungeborenen Menschen macht“.

Mit Zitaten wie diesen hätte man in den Jahren 1991 und 1992 ganze Zeitungsseiten pflastern können. Sie erklären zwar nicht, weshalb mitunter dieselben Personen in der Sache in den Folgejahren eine Kehrtwende um nahezu 180 Grad vollzogen, wohl aber eine gewisse Dünnhäutigkeit, wenn manche – in Unkenntnis dieser Vorgeschichte – DBK und ZdK tatsächlich oder auch nur dem Anschein nach unterstellen, kein besonderes Interesse am Schutz menschlichen Lebens zu haben oder gar Abtreibungen insgeheim zu befürworten. Andererseits macht der Verlauf des Streits um den Beratungsschein und das jahrelange Tauziehen mit Rom, der mit dem ersten Brief Papst Johannes Pauls II. zur Schwangerenberatung in Deutschland vom 21. September 1995 begann und in der Gründung des Vereins „Donum Vitae“ am 24. September 1999 gipfelte, deutlich, dass sich die Verantwortlichen den Schutz des Lebens ungeborener Kinder letztlich nur innerhalb des staatlichen Systems und eben nicht auch außerhalb oder gar im Gegensatz zu diesem vorstellen konnten.

Nachdem der Freistaat Bayern und Abgeordnete der CDU/CSU-Bundestagsfraktion Klage vor dem Bundesverfassungsgericht geführt hatten, erklärten die Karlsruher Richter in ihrer Entscheidung vom 28. Mai 1993 zwar einzelne Bestimmungen des Gesetzes für verfassungswidrig, akzeptierten jedoch den vom Gesetzgeber vorgenommenen Paradigmenwechsel und erklärten ihn als mit der Verfassung grundsätzlich vereinbar. Hinter plakativen Formeln wie „Hilfe statt Strafe“ und „rechtswidrig, aber straffrei“ stand letztlich der Gedanke, das Leben ungeborener Kinder ließe sich durch Beratung und die Bereitstellung sozialer Hilfen besser schützen als durch die Androhung von Strafen im Falle einer Abtreibung. Die Richter verbanden das Urteil, das der renommierte Osnabrücker Sozialwissenschaftler Manfred Spieker später „einerseits“ als „großartig, mutig, klar“ und „andererseits“ als „enttäuschend, inkonsequent naiv“ bezeichnen sollte, mit dem Auftrag an den Gesetzgeber, die Auswirkungen des vorgenommenen Systemwechsels zu beobachten und gegebenenfalls gesetzgeberisch nachzubessern.

Dem kam der Gesetzgeber allerdings nie nach. Die Verfassungsrichterin Karin Großhof, die als Mitglied des Zweiten Senats an dem Urteil mitwirkte, scheute sich nicht, das in sich widersprüchliche Urteil hinterher öffentlich als „juristische Spagatübung zwischen Rechtmäßigkeit und Rechtswidrigkeit“ zu bezeichnen. Das Problem habe darin bestanden, „dass effektiver Lebensschutz gewährleistet werden soll in der sozialen Wirklichkeit, wie sie sich nun einmal entwickelt hat“.

In dieser Situation entschied im September 1993 der Erzbischof von Fulda, Johannes Dyba, dass die Beratungsstellen seiner Diözese keine Beratungsscheine mehr ausstellen, die der Gesetzgeber zur Bedingung für eine straffreie Abtreibung gemacht hatte. Die übrigen Diözesanbischöfe verständigten sich dagegen darauf, zunächst die durch das Urteil des Bundesverfassungsgerichts notwendig gewordene Novellierung des „Schwangeren- und Familienhilfeänderungsgesetzes“ abzuwarten.

Wie Spieker in seiner singulär gebliebenen Monografie „Kirche und Abtreibung in Deutschland – Ursachen und Verlauf eines Konflikts“, die sowohl in punkto Ausführlichkeit als auch hinsichtlich ihrer Differenzierungen bis heute unerreicht ist und 2008 in einer zweiten, erweiterten Auflage erschien, nachweist, markiert das Urteil des Bundesverfassungsgerichts auch in etwa den Zeitpunkt, von dem an die Spitzen von ZdK und DBK Abschied von ihrem bisherigen Kurs nahmen und sich mit der neuen Lage zu arrangieren begannen: „Die Reaktionen auf das lange erwartete Urteil in der Öffentlichkeit waren im ersten Moment so widersprüchlich wie das Urteil selbst. Während die meisten Befürworter einer Fristenregelung in den politischen Parteien das Urteil heftig kritisierten und als ,Katastrophe? und ,Rückfall ins Mittelalter? (Regine Hildebrandt, SPD) oder ,Skandal? (Gerhard Schröder, SPD) bezeichneten, äußerten sich Vertreter der katholischen Kirche geradezu euphorisch. Bischof Lehmann sprach von einer ,historischen und wegweisenden Entscheidung?, deren wahrer Gewinner der Mensch sei.“ ZdK-Präsidentin „Rita Waschbüsch sah vor allem die Beratungsarbeit der katholischen Kirche bestätigt, die sie denn auch glaubte, im staatlichen Beratungssystem fortsetzen zu können“.

Papst Johannes Paul II. war anderer Ansicht. Nachdem der Bundestag im Juni 1995 das „Schwangeren- und Familienhilfeänderungsgesetz“ verabschiedet hatte, wandte er sich mit Datum vom 21. September schriftlich an die „verehrten Mitbrüdern im Bischofsamt in Deutschland“.

In seinem ersten Brief, dem weitere folgen sollten, ging der Papst auch explizit auf den „veränderte(n) Stellenwert“ ein, „den das neue Gesetz der Beratungsbescheinigung zuweist“. Sie bestätige, „dass eine Beratung stattgefunden hat, ist aber zugleich ein notwendiges Dokument für die straffreie Abtreibung in den ersten zwölf Wochen der Schwangerschaft.

Während in der vorhergehenden Gesetzeslage die ärztliche Indikationsfeststellung die wesentliche Voraussetzung für die straffreie Abtreibung bildete und der Nachweis der Beratung eher von zweitrangiger Bedeutung war, wie Ihr auch wiederholt betont habt, ist die Beratungsbescheinigung nun de facto die alleinige Voraussetzung für eine straffreie Abtreibung“. Der Pontifex lobte sodann, dass die deutschen Bischöfe zu den verschiedenen Gesetzentwürfen „in den vergangenen Jahren immer wieder Stellung genommen“ und sich „stets für den Lebensschutz von der Empfängnis an eingesetzt und an die Voraussetzungen der kirchlichen Beratung erinnert“ hätten. In diesem Zusammenhang verwies er auch „auf eine Erklärung von Herrn Bischof DDr. Karl Lehmann, dem Vorsitzenden Eurer Bischofskonferenz (...), die am 10. Juni 1992 veröffentlicht wurde: ,Die Beratungsstellen können sich nicht in ein Verfahren einbinden lassen, dass die Ausstellung einer Beratungsbescheinigung zu einer wesentlichen Voraussetzung für die straffreie Tötung eines ungeborenen Menschen macht.?“ Auch wenn der Papst den Ausstieg aus der „Scheinberatung“ damals noch nicht explizit anordnete, war eigentlich doch schon unmissverständlich ersichtlich, worum es ihm ging. Johannes Paul II. wollte nicht, dass in kirchlichen Beratungsstellen des Sozialdienstes katholischer Frauen (SkF) und der Caritas länger jene Scheine ausgestellt werden, die nach der Reform der Abtreibungsgesetzgebung Frauen den Zugang zu einer straffreien vorgeburtlichen Kindstötung ermöglichen. Dennoch brauchte es fünf lange Jahre, bis sich die deutschen Bischöfe dann im Jahr 2000 entschlossen, „eine Neuordnung der katholischen Beratung im Sinn der Weisung des Papstes“ auf den Weg zu bringen.

Dass katholische Laien sich dem widersetzten und am 24. September 1999 den eingetragenen Verein „Donum Vitae“ gründeten, um, wie es bis heute heißt, „das katholische Element“ im System der staatlich anerkannten Schwangerschaftskonfliktberatung zu erhalten, ist eine offene Wunde, die viele bis heute schmerzt und die das Zeugnis der Kirche – entgegen dem Wunsch des heiligen Papstes Johannes Pauls II. – verdunkelt.

Ob künftige Generationen von Bischöfen und Laien diese Wunde zu schließen vermögen, darf gehofft und erbetet, muss aber letztlich abgewartet werden. So falsch es wäre, bis dahin die Augen vor dem ungelösten Teil des so schmerzhaft wie mühsam beigelegten Konflikts zu verschließen, so geschichtsverfälschend wäre es, den Verantwortlichen zu unterstellen, Abtreibungen insgeheim befürwortet und kein echtes Interesse am Schutz menschlichen Lebens besessen zu haben.

Die Printausgabe der Tagespost vervollständigt aktuelle Nachrichten auf die-tagespost.de mit Hintergründen und Analysen. Kostenlos erhalten Sie die aktuelle Ausgabe hier.

 

Die Printausgabe der Tagespost vervollständigt aktuelle Nachrichten auf die-tagespost.de mit Hintergründen und Analysen. Kostenlos erhalten Sie die aktuelle Ausgabe

Themen & Autoren
Stefan Rehder Bundesverfassungsgericht Caritas Deutsche Bischofskonferenz Deutscher Bundestag Erzbischöfe FDP Gerhard Schröder Günther Krause Johannes Dyba Johannes Paul II. Karl Lehmann Kirchengeschichte Päpste Rita Waschbüsch SPD Wolfgang Schäuble Zentralkomitee der deutschen Katholiken

Weitere Artikel

Der deutsche Katholizismus ist gelähmt. Er spielt in gesellschaftlichen Debatten kaum noch eine Rolle. Dazu beigetragen haben nicht zuletzt die Bischöfe.
26.05.2022, 09 Uhr
Manfred Spieker
Warum eine „Gewissenserforschung über Johannes Paul II.“ der Kirche und seiner Verehrung guttun würde. Ein Kommentar.
09.03.2023, 16 Uhr
Stefan Meetschen

Kirche

In der 22. Folge des „Katechismus-Podcasts“ der „Tagespost“ befasst sich Theologin Margarete Strauss mit der Bedeutung des Neuen Testaments, insbesondere der Evangelien.
30.03.2023, 14 Uhr
Meldung
Das Prophetische im Denken wie in der Verkündigung von Papst Benedikt XVI. stand im Fokus einer hochkarätigen Fachtagung im Zisterzienserstift Heiligenkreuz.
30.03.2023, 09 Uhr
Stephan Baier