Um zu verstehen, was mit der SPD gerade geschieht, muss man eine Dekade zurückschauen: 1983 – da jobbte Saskia Esken gerade nach Abitur und einigen Semestern in Politikwissenschaft und Germanistik als Paketzustellerin, Norbert Walter-Borjans schrieb an seiner Promotion in Volkswirtschaft und Kevin Kühnert, Jahrgang 1989, war noch gar nicht geboren. Der Machtverlust, das Scheitern der Sozial-Liberalen Koalition unter Helmut Schmidt lag gerade ein Jahr zurück, als der Soziologie-Professor Ralf Dahrendorf eine mutige Prognose wagte: Das „Zeitalter der Sozialdemokratie“ sei zu Ende, proklamierte er, dessen Vater Gustav zum sozialdemokratischen Widerstand gegen das NS-Regime gehört hatte, er selbst aber wurde zu einem Vordenker der FDP. Die Sozialdemokratie und die alte Industriegesellschaft gehörten zusammen, so seine These. Da es aber eben diese und damit natürlich auch die Industriearbeiterschaft, nicht mehr gebe, müsse die SPD sich verändern.
Die Identitätskrise der SPD ist schon fast 40 Jahre alt
Man sieht: Die Identitätskrise der SPD ist schon fast 40 Jahre alt. Zwei Jahrzehnte liegt auch schon der Versuch zurück, darauf die Antwort zu geben, die auch bereits Dahrendorf nahegelegt hatte: eine Art „Dritter Weg“ zwischen bürgerlichem und dezidiert linkem Lager. Gerhard Schröder, der mit dieser Strategie immerhin ins Kanzleramt eingezogen ist, gilt heute aber den Anhängern des neuen Führungsduos Norbert Walter-Borjans und Saskia Esken als Inkarnation des verfemten Neoliberalismus. Dieser Kurs hat der neuen Parteiführung auch gleich ein Angebot von SPD-Abweichler Oskar Lafontaine eingebracht. Eine Fusion von SPD und Linkspartei hielte er für wünschenswert, so der Saarländer. Wenngleich er auch gleich anmerkte, im Moment seien die Grundlagen dafür nicht da. Trotzdem: Der ehemalige SPD-Chef scheint Morgenluft zu wittern. Aber würde diese Kooperation die Sozis aus ihrer Krise retten? Würde sie so wieder zu der deutschen Arbeiterpartei werden?
Entscheidend wäre hierfür, jenseits der Fixierung auf Sozialpolitik noch einen anderen Aspekt in den Blick zu nehmen: Sigmar Gabriel hat jüngst angemerkt, die neue Arbeiterpartei sei mittlerweile die AfD. Dazu wäre zu ergänzen: Für das ehemalige Kernklientel der Partei spielen zunehmend neben der Wirtschafts- und Sozialpolitik auch Fragen der Identitätspolitik eine Rolle. Die Arbeiter sind es etwa, die in Vierteln leben, die mit den Integrationsproblemen von Migranten zu kämpfen haben. Doch auf diese Herausforderung hat die SPD keine Antwort. Sie klammert diese Frage geradezu aus.
Kevin Kühnert: Königsmacher der neuen Vorsitzenden
Die neue Parteiführung konzentriert sich denn in ihrem programmatischen Revisionsprozess nur auf jene Punkte, wo der Gegner, nämlich die Schröder-Leute und ihre Freunde, klar sind. Auf die einzuschlagen, tut niemandem weh. Die Linkspartei – und auch deswegen ist Lafontaines „unmoralisches Angebot“ interessant – ist hier schon weiter. Sarah Wagenknecht, die Frau des Vorsitzenden der saarländischen Linkspartei, ist es gewesen, die auf dem Höhepunkt der Flüchtlingskrise darauf hingewiesen hat, dass es eben vor allem „der kleine Mann“ sei, der die Fehler in der Flüchtlingspolitik ausbaden müsse. Und auch auf einen anderen Aspekt hat sie hingewiesen: Die Lebenswirklichkeit vieler Linker, die längst in der Bourgeoisie angekommen sind, haben mit dem Alltag der Wähler, die sie vertreten wollen, nur noch wenig zu tun.
Für diese Punkte hat Wagenknecht in ihrer eigenen Partei viel Schelte bekommen, ihr Rückzug als Fraktionsvorsitzende war wohl auch eine Reaktion darauf. Aber könnte eine neue linke Partei, die Teile der alten Sozialdemokratie aufnimmt, diesen Ansatz doch weiterführen? Noch ist nicht abzusehen, ob Lafontaine, der damals seiner Frau sekundiert hat, auch solche Ziele im Sinn hat. Fraglich ist wohl auch, wie solche Ideen in der SPD aufgenommen werden würden. Der Einzige, der von der strategischen Begabung wie auch von seinen rhetorischen Begabungen her so einen Ansatz überhaupt erfolgreich aufgreifen könnte, ist Kevin Kühnert. Der Juso-Chef ist ja nicht nur der Königsmacher der neuen Vorsitzenden, er ist eigentlich auch so etwas wie ihr programmatischer Mentor. Bisher hat Kühnert allerdings nicht gezeigt, dass er für den Wagenknecht-Ansatz Sympathie hätte. Allerdings: Im Moment zeigt Kühnert auch seine Wendigkeit, wenn es darum geht, Machtpolitik zu treiben. Erst hieß bei ihm „Nikolaus ist Groko-Aus“, jetzt verteidigt er die Große Koalition.
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