Herr Professor Rödder, konservativ zu sein, das galt in Deutschland lange Zeit als rückständig und nicht besonders angesagt. Doch der Zeitgeist scheint sich gedreht zu haben. Aktuelle Umfragen unter jungen Leute zeigen, dass konservative Werte wie „Familie“ oder „Heimat“ bei ihnen so hoch im Kurs stehen wie schon lange nicht mehr. Und wenn nun in der CDU vor dem Rückzug von Angela Merkel über eine neue inhaltliche Profilierung diskutiert wird, gehen vor allem vom konservativen Flügel Impulse aus. Mit der WerteUnion hat sich in der Partei eine konservative Basisbewegung gebildet. Und mit Friedrich Merz und Jens Spahn stellen gleich zwei aussichtsreiche Kandidaten für den Bundesvorsitz ihre konservative Grundhaltung heraus. Erleben wir eine Renaissance des Konservatismus?
Prognosen über gesellschaftliche Entwicklungen sind immer schwierig. Es deutet aber manches darauf hin, dass die Kultur der Inklusion, die die letzten Jahre dominiert hat, Konkurrenz bekommt.
Was verstehen Sie unter Kultur der Inklusion?
Es ist eine Kultur im Zeichen von Diversität, Antidiskriminierung und Gleichstellung, die sich um die Jahrtausendwende als neue Leitkultur durchgesetzt hat. Inklusion bedeutet: anders sein ist normal. Oder, wie es in einem Werbespot der Aktion Mensch heißt: wenn Ausnahmen zur Regel werden. Das heißt zugleich: Es geht um neue Regeln. Ziel der Politik ist es, alles, was vermeintlich diskriminierend wirkt, zu beseitigen. Es geht also immer um Gleichheit. Aber nicht in dem Sinne, dass alle Menschen vor dem Recht gleich sind. Auch nicht um Gleichberechtigung im Sinne gleicher Startchancen. Sondern um Gleichstellung – und somit um eine neue Ordnung.
Das zeigt sich in verschiedenen Bereichen: Nicht nur dort, wo körperlich oder geistig behinderte Kinder in herkömmliche Schulklassen integriert werden. Sondern auch in dem Bestreben, die heterosexuelle Ehe mit gleichgeschlechtlichen Partnerschaften gleichzustellen. Auch das Konzept des Multikulturalismus folgt dieser Tendenz, einschließlich der Aussage, der Islam gehöre zu Deutschland. Den Höhepunkt dieser Entwicklung stellte die sogenannte Willkommenskultur zu Beginn der Flüchtlingskrise dar.
Inklusion als Leitidee hatte aber auch Auswirkungen auf die politische Streitkultur. Wer sich skeptisch äußerte, musste damit rechnen, nicht auf Argumente, sondern auf ausgrenzende Empörung zu stoßen. Alles zusammen: Die Kultur der Inklusion hat zu erheblichen Emanzipationsgewinnen geführt. Aber ihre moralische und ideologische Überhöhung hat der politischen Kultur geschadet.
Und das hat sich nun geändert?
Jedenfalls wird immer deutlicher, dass unsere Gesellschaft den Herausforderungen der Zukunft nur gerecht wird, wenn sie über Probleme und Alternativen frei diskutiert. Angela Merkels Konzept der sogenannten asymmetrischen Wählerdemobilisierung hat darauf gesetzt, Polarisierungen in der Auseinandersetzung zu vermeiden. Es wurde kaum noch gestritten; stattdessen musste beim Wähler der Eindruck entstehen, zumindest die etablierten Parteien würden mehr oder weniger gleiche Positionen vertreten. Alternativen dazu erscheinen als unmoralisch. Dieser Ansatz scheint jetzt an sein Ende gekommen zu sein.
Und eine konservative Grundhaltung steht für das Gegenmodell?
Zum Konservativen gehört ein Sinn für Maß und Mitte. Konservative schauen mit Skepsis auf die Ideologisierung und Moralisierung unserer politischen Streitkultur. Es wird sicherlich manche wundern, aber es ist tatsächlich nun die Aufgabe der Konservativen, für die freie Meinungsäußerung einzutreten. Die Linke ist zum Teil freiheitsfeindlich und autoritär geworden.
Jens Spahn betont seit seiner Kandidatur ebenfalls die Bedeutung der Debattenkultur für die Demokratie. Wie sehr steht er Ihrer Ansicht nach für eine konservative Profilierung der Union?
Ich kenne Jens Spahn als einen offenen, unideologischen und originellen Konservativen, der auch für unorthodoxe Lösungen offen ist. Solche Konservative waren historisch gesehen immer die besten.
Und Friedrich Merz? Er ist noch mehr als Spahn zur Sehnsuchtsfigur der Konservativen in der CDU geworden. Passen seine wirtschaftsliberalen Grundüberzeugungen dazu? Lassen sie sich gut in das konservative Profil integrieren?
Friedrich Merz verkörpert die Sehnsucht des liberal-konservativen Herzlandes der CDU, das mit der Annäherung der Merkel-CDU an die Grünen immer gefremdelt hat. Marktwirtschaft und Konservatismus müssen aus einer liberal-konservativen Warte keine Gegensätze sein, sie sind es nur dann, wenn eines von beiden ideologisiert wird.
Schließlich Annegret Kramp-Karrenbauer: Manche sehen in ihr eine „Mini-Merkel“. Aber greift dieses Urteil nicht etwas zu kurz. Da wäre einmal der persönliche Lebensstil: Anders als die Kanzlerin ist sie in erster Ehe verheiratet, hat Kinder. Außerdem setzt sie sich für den Lebensschutz ein und hat sich deutlich gegen die Homo-„Ehe“ ausgesprochen. Ist sie auch eine Konservative?
Von ihrem Lebensentwurf her offensichtlich schon, zumal sie in einem katholischen Milieu verortet ist. Sozialpolitisch steht sie der katholischen Arbeitnehmerbewegung nahe, aber auch der Sozialkonservatismus war immer eine Strömung der Konservativen.
Schaut man auf alle Kandidaten, so kann man wohl sagen: Egal wer gewinnen wird, die Union wird in jedem Fall konservativer werden als in der Ära Merkel. Ist die CDU aber eine konservative Partei oder nur eine Partei, die auch konservativ ist?
Wenn Armin Laschet sagt, das Konservative gehöre nicht zur DNA der CDU, dann ist das nicht nur ein Ausverkauf, sondern Verramschung des Tafelsilbers. Konservatismus im Sinne einer Grundhaltung der Skepsis gegenüber ideologischer Selbstgewissheit, der Alltagsvernunft statt abstrakter Theorie und des Vorrangs der Gesellschaft vor dem Staat – das ist die DNA der Christdemokratie, im Unterschied zur Fortschrittsgläubigkeit des Liberalismus, zur Staatsorientierung der Sozialdemokratie, zur grünen Utopie vom neuen Menschen und zum traditionalistischen, teils völkischen Ressentiment der AfD, um es einmal plakativ zu sagen.
Und welche Rolle spielt das „C“ dabei?
Das „C“ hat für die Parteigeschichte natürlich eine besondere Bedeutung, aber ich würde sagen, auch wenn das viele nicht gern hören: vor allem eine historische Bedeutung. Mit Blick auf die aktuellen politischen Herausforderungen sehe ich die Gefahr, dass es vor allem gesinnungsethisch interpretiert wird. Das sieht man ja etwa in der Flüchtlingsfrage. Die Vertreter der „Willkommenskultur“ nehmen das christliche Menschenbild ebenso in Anspruch wie die Lebensschützer. Oder liegt das christliche Menschenbild in der Vorstellung vom unvollkommenen Menschen, der die Welt nicht vollständig erkennen kann, und daher in einer Grundhaltung der Skepsis gegenüber jedweder ideologischer Selbstgewissheit? Das ist alles nicht recht klar und geht in der Diskussion auch ziemlich durcheinander.
Ich sehe als Grundlage der Union eigentlich etwas anderes, nämlich eine Grundhaltung im Verhältnis zum Staat: Die Vorstellung, dass die kleinen Gemeinschaften es sind, die Probleme lösen, bevor der Staat eingeschaltet wird, prägt alle Flügel der Partei. Dieses Prinzip der Subsidiarität stammt aus der Katholischen Soziallehre, aber das ist nicht unbedingt allen mehr bewusst.
Noch einmal zum Konservativ-sein selbst: Warum fällt es so schwer, genau zu bestimmen, was eigentlich darunter zu verstehen ist?
Anders als der Liberalismus und der Sozialismus hat der Konservatismus keine großen Theoriewerke, auf die er sich bezieht. Es gibt keine konservative Lehre, und es gibt auch keine immerwährenden Inhalte – im Gegenteil, und hier liegt das konservative Paradox: Der Konservative von heute verteidigt, was er gestern bekämpft hat: Demokratie, Nationalstaat, Marktwirtschaft zum Beispiel waren im 19. Jahrhundert alles andere als konservative Positionen. Kritiker sagen daher, Konservatismus sei beliebig. Man kann aber auch sagen: Konservative wissen, dass das, was wir heute für richtig halten, sich morgen als falsch herausstellen kann. Und darin steckt etwas zutiefst Menschenfreundliches: Der Konservative ist kein Vertreter von dogmatischer Unbedingtheit. Vielmehr geht es darum, wie es der englische Premierminister Lord Salisbury im späten 19. Jahrhundert so schön ausdrückte, den Wandel zu verzögern, bis er harmlos geworden ist. Der Konservative steht auch nicht gegen die Moderne, er ist Teil von ihr. Denn er reagiert ja auf den Wandel, den sie hervorruft. Und der Konservative will ihn so gestalten, dass die Menschen mitkommen. Das ist eine nach wie vor ziemlich aktuelle Aufgabe.
Zur Person:
Prof. Andreas Rödder, ein konservativer Kenner
Andreas Rödder gehört zu den besten Kennern der konservativen Ideengeschichte in Deutschland. Der Geschichtsprofessor an der Universität Mainz ist aber auch ein meinungsfreudiger Publizist. Der Historiker, Jahrgang 1967, ist regelmäßiger Teilnehmer an Diskussionsrunden im Fernsehen, um aktuelle politische Fragen aus historischer Perspektive zu analysieren.
Andreas Rödder studierte von 1986 bis 1991 Geschichte und Germanistik an den Universitäten Bonn, Tübingen sowie Stuttgart und legte 1991 das Erste Staatsexamen für das Lehramt an Gymnasien in Tübingen ab. Von 1992 bis 1994 war Rödder Promotionsstipendiat der Konrad-Adenauer-Stiftung und 1992/1993 bei der Edition „Akten zur Auswärtigen Politik der Bundesrepublik Deutschland“ am Institut für Zeitgeschichte in München und dem Auswärtigen Amt in Bonn tätig. Nach dem Abschluss seiner Dissertation bei Klaus Hildebrand in Bonn wechselte er 1994 an die Universität Stuttgart, wo er Wissenschaftlicher Assistent am Lehrstuhl von Eberhard Jäckel wurde. 2001 habilitierte er sich dort mit einer Studie über „Die radikale Herausforderung. Die politische Kultur der englischen Konservativen zwischen ländlicher Tradition und industrieller Moderne 1846–1868“, für die er 1998/1999 Forschungsstipendien der Fritz Thyssen-Stiftung für Archivstudien in England erhalten hatte. Im April 2005 wurde Rödder zum ordentlichen Professor für Neueste Geschichte an die Johannes Gutenberg-Universität Mainz berufen.
Rödder ist Mitglied der CDU. Während des Landtagswahlkampfs 2011 und des Landtagswahlkampfs 2016 in Rheinland-Pfalz war Rödder im Schattenkabinett von Julia Klöckner für den Bereich Bildung, Wissenschaft und Kultur verantwortlich. Er gehört auch dem Vorstand der Konrad-Adenauer-Stiftung an.
Rödder ist katholisch, verheiratet und Vater dreier Töchter. Eine seiner Leidenschaften ist die Kirchenmusik: Er spielt schon seit seiner Jugend an der Orgel.