Der Maghreb entwickelt sich zum Schicksalsraum der Einwanderungsfrage. Doch von welchen Staaten dort könnten Impulse ausgehen: Libyen leidet unter dem Sklavenhandel, in Algerien herrscht eine bleierne Ruhe. Aber Marokko kann sowohl Dynamik wie auch Stabilität aufweisen. Sein politischer Einfluss reicht weit nach Afrika. Marokko könnte damit auch zu einem wichtigen Partner Europas werden.
Doch zunächst noch einmal ein Blick auf die Nachbarn: Wer wäre dort in der Lage, die Migrationsströme aus Afrika aufzuhalten? In Algerien finden die Flüchtlinge keine Gnade, die Armee will keine Flüchtlingszeltstädte. Sie wären in ihren Augen Quellen der Unruhe und da der Präsident sterbenskrank ist, ist die Aufrechterhaltung der Stabilität die erste Soldatenpflicht.
In der Tat: Abd al-Aziz Bouteflika ist so geschwächt, dass er nicht mehr in der Öffentlichkeit auftritt. Mit den seltenen Besuchern verständigt sich der nur noch flüsternde Achtzigjährige über ein Mikrofon. Sollte er nach fast 20-jähriger Regierungszeit sterben, drohen in Algerien Unruhen – mit der Folge, dass dann wieder viele Hunderttausende nach Europa fliehen.
Noch funktionieren die Geheimdienste und die Mechanismen der Unterdrückung von politischen Freiheitsgelüsten. Aber wie lange noch? Die Wirtschaft steht wegen der gefallenen Öl-und Gaspreise am Abgrund, die Arbeitslosigkeit wächst. Algerien ist ein Pulverfass und die Lunte glimmt. Aber niemand weiß, wie lang die Lunte ist. Schon warten die Schlepper auf Kundschaft. Vielleicht wird es ein General? In Ägypten regiert schon General Al Sisi mit harter Hand.
Blick richtet sich nach Marokko
Und Marokko? Hier herrscht König Mohammed VI. Sein Land könnte tatsächlich zu einem Schlüssel für die Lösung der Einwanderungsfrage werden. Er erlaubt kleine Freiheiten und genießt als direkter Nachkomme des Propheten besonderes Ansehen in der Bevölkerung. Aber ab und zu lässt er die Europäer auch seine Macht spüren, indem der Monarch das Migrationsventil bedient.
Dann schauen seine Grenzwachen weg und plötzlich stürmen mehrere hundert Flüchtlinge die Zäune der spanischen Enklaven Ceuta und Melilla. Sie alle wissen: Wer in Ceuta oder Melilla Fuß fasst, braucht nicht mehr über das Mittelmeer. Deshalb ziehen viele Tausend an Libyen und Algerien vorbei und warten darauf, dass die marokkanischen Grenzer einfach wegschauen und sie passieren lassen.
Die Zusammenarbeit Europas mit dem König drängt sich auf. Mohammed VI. ist ein moderater und modern gesinnter Monarch. Natürlich kann in Marokko von Demokratie nicht die Rede sein, wie übrigens in keinem der 57 Länder der Islamischen Liga. Europa hat ein hohes Interesse, mit dem König zu kooperieren. Die Abschiebungen nach Marokko haben sich dieses Jahr verdreifacht. Nach Tunesien und Algerien stocken sie. Mit Rabat ist allemal besser zu verhandeln als mit allen anderen Autokraten im Maghreb.
Und der König unterhält gute Beziehungen bis tief in den afrikanischen Kontinent. Er kann Präsidenten und Könige beeinflussen und dafür werben, dass dichte Grenzen und ein effektiver Kampf gegen Schlepperbanden mehr Entwicklungshilfe bringt. Deshalb haben Verhandlungen mit ihm auch mehr Zukunftsperspektive. Sein eigenes Land ist stabil. Zwar haben Christen in Marokko kein einfaches Leben. Mission ist wie in allen muslimischen Ländern verboten. Im Juni haben sogar 7 000 religiöse Führer ein Dokument unterzeichnet, das Aktivitäten von Christen als „moralische Vergewaltigung“ und „religiösen Terrorismus“ verurteilt. Und der Minister für religiöse Stiftungen in Marokko hält auch die jüdische Religion für subversiv, sie untergrabe die öffentliche Ordnung. Das Religionsministerium, das sich um diese Fragen kümmern sollte, stimmt stillschweigend zu. Aber anders als in anderen muslimischen Ländern dürfen Christen ihren Glauben immerhin ausüben, es gibt auch Kirchen. Und man kann vermuten, dass der König diese Umtriebe religiöser Führer als Ventil benutzt, um die Unruhe in islamistischen Kreisen von sich abzulenken. Abgesehen davon lässt König Mohammed die Moscheen überwachen und achtet darauf, dass radikal-islamische Strömungen dort nicht zum Zuge kommen.
Moderater Religionskurs
Der König verfolgt einen moderaten Religionskurs. Als „Amir al-Muminine“, Prinz der Gläubigen, versucht er zudem über die Religion, genauer über die Angehörigen des malekitischen Ritus, Einfluss auf die Nachbarländer in der Subsahara auszuüben. Diese eher islamisch-gemäßigte Glaubensrichtung wird besonders von der Sufi-Bruderschaft Tijaniyya praktiziert. In Mali, Senegal und Nigeria wird die Zahl der Anhänger dieser Richtung auf 35 bis 40 Millionen geschätzt. Der Gründer ist in Fes begraben, einer Pilgerstätte für die Gläubigen. Der König versucht, diesen auch von anderen Bruderschaften und Institutionen unterstützten „Islam der gerechten Mitte“ als Bollwerk gegen radikale Strömungen auszuweiten. So bildet seit 2013 das „Institut Mohammed VI.“ Imame und religiöse Berater auch aus Mali, der Elfenbeinküste, Guinea und neuerdings auch aus dem Tschad aus. Marokko vergibt an diese Studenten Stipendien. Eine weitere Institution, die „Stiftung Mohammed VI.“ hält seit Sommer 2016 regelmäßig Treffen von islamischen Würdenträgern und Gelehrten aus 30 Ländern ab, um diese gemäßigte Richtung des Islam zu verbreiten und in Afrika zu verankern.
Ein großes Problem hat Marokko mit seinen Nachbarn im Maghreb und in der Subsahara gemeinsam: Armut und Arbeitslosigkeit. Von den 36 Millionen Marokkanern sind offiziell 3,9 Millionen arm, wahrscheinlicher ist die doppelte Anzahl. Deshalb sind unter den Migranten, die über das Mittelmeer Spanien und Italien erreichen wollen, auch viele Marokkaner. Dem will der König mit mehr Handel begegnen. Marokko weitet seinen wirtschaftlichen Einfluss aus. Schon heute ist das Land nach Südafrika der zweite Investor im schwarzen Kontinent. 85 Prozent der marokkanischen Investitionen werden in Afrika getätigt, schreibt die Afrikanische Entwicklungsbank. Es geht um Dünger, Häuserbau, Bankensysteme oder auch Gaspipelines vor allem in Westafrika, aber auch in Uganda, Ruanda und sogar beim Hauptrivalen Südafrika. All diese kulturellen und wirtschaftlichen Initiativen verfolgen auch politische Ziele.
Marokko will wieder in der OAU, der Organisation der Afrikanischen Union, zu den ersten gehören. 1984 hatte Rabat die OAU verlassen, weil sie die Demokratische Arabische Republik Sahara aufgenommen hatte. Diese de facto nicht lebensfähige und von der Widerstandsbewegung Polisario geführte Republik beansprucht die Westsahara für sich, Marokko sieht diesen phosphatreichen Landstrich aber als eigenes Staatsgebiet an und hat Teile davon besetzt. Seit die Spanier sich aus diesem Konflikt zurückgezogen haben, lebt die Polisario von der Unterstützung aus Algier. Im Januar dieses Jahres war Marokko in die OAU zurückgekehrt, das Problem mit der Polisario schwelt weiter, ihre Republik wird derzeit nur von rund 30 Staaten anerkannt.
Marokko verfügt über Dynamik
Rabat will die Polisario isolieren, Algier hält dagegen. Aber der Einfluss Algeriens in Afrika sinkt, Marokkos Ansehen steigt. Die Lage an der Spitze beider Länder ist symptomatisch. König Mohammed könnte mit europäischer Hilfe die Flüchtlingsströme aus Afrika in Richtung Europa schon in der Tiefe des Kontinents eindämmen, Algerien ist momentan dazu nicht in der Lage. Auch die Grenzsituation beider Länder in der Sahara ist symptomatisch, ein Sandwall von 2 700 Kilometer Länge trennt die beiden Armeen, es bewegt sich nichts.
Aber während Algerien politisch und wirtschaftlich wie gelähmt erscheint, geht von Marokko eine Dynamik aus, die sowohl Reformen im Innern als auch Initiativen in der Diplomatie und im Außenhandel antreibt. Daran wird sich, solange der König lebt, nichts ändern. Es lohnt sich für die Europäer, Marokko als sicheres Herkunftsland anzuerkennen und sein Netz nach und in den muslimischen Teil Afrikas für die eigene Politik zu nutzen.