Herr Professor von Rosenberg, in Ihrem Buch schildern Sie erschütternde Schicksale von Säuglingen und Kleinstkindern in DDR-Kinderkrippen: So etwa das Schicksal eines vietnamesischen Kindes, das an einer Überdosis von Beruhigungsmedikamenten verstarb. Oder den Tod des kleinen Michael, der nachts angegurtet war und von dem Lederriemen erstickt wurde. Geht es hier um tragische Einzelfälle, wie es sie leider überall und immer wieder gibt, oder stehen diese Schicksale für systemische Probleme der DDR-Krippenbetreuung?
Man muss die zwei Fälle für sich betrachten. Im ersten Fall des Medikamentenmissbrauchs geht es um ein Säuglingsdauerheim für Kinder mit Behinderungen. Da zeigt der Aktenverlauf deutlich, dass es dort toleriert wurde, dass die behinderten Kinder sediert, also mit Medikamenten ruhig gestellt wurden. Es geht bei der Prüfung im Ministerium nur darum, dass man sich mit der Menge verkalkuliert hat. Die Verabreichung von Beruhigungsmitteln an sich wurde nicht kritisiert oder verurteilt.
Im zweiten Fall geht es um eine Wochenkrippe. Hier gab es vor allem bei Nachtwachen Personalprobleme, so dass eine Person 30, 40, 50 schlafende Kinder gleichzeitig zu beaufsichtigen hatte. Damit die Kinder nicht aus ihren Betten stürzen, wurde in der Nacht der Einsatz der Lederriemen als notwendig angesehen. Die Praxis der Fixierung mit Lederriemen an sich wird von den beteiligten Akteuren nicht in Frage gestellt. Es geht nur darum, wie der Lederriemen eingesetzt werden soll, um zukünftige Unfälle zu vermeiden.
Beide Fälle zeigen nicht einfach Einzelschicksale. Es geht um Praktiken der Sedierung und Fixierung von Kleinstkindern in Wochenkrippen und Säuglingsdauerheimen, die eine gewisse Selbstverständlichkeit hatten.
Wie muss man sich eine Wochenkrippe vorstellen, wie ein Säuglingsdauerheim? Welche Arten von Krippenbetreuung gab es in der DDR?
Es gab erstens die Tageskrippen, in denen sich die Kinder zwischen acht und zehn Stunden – manchmal länger – aufhielten und dann wieder abgeholt wurden. Zweitens gab es die Wochenkrippen. Das waren Einrichtungen für Arbeiter im Schichtdienst, zum Beispiel Polizisten oder Krankenschwestern, aber durchaus auch für Studenten, manche Unis hatten ihre eigenen Wochenkrippen. In den Wochenkrippen wurden die Kinder am Montagmorgen abgegeben und blieben dort bis Freitag- oder Samstagnachmittag. Diese Form der Krippenbetreuung auch über die Nacht ist für uns heute schwer vorstellbar, weil die Kleinkinder dauerhaft von ihren Eltern getrennt leben mussten. Die Beziehung zu ihren Eltern löste sich vielfach, weil sie eben in einer prägenden Phase der Kindheit die ganze Woche über auf Vater und Mutter verzichten mussten. Oft gibt es Schilderungen, dass die Kinder ihre Eltern am Wochenende wie Fremde wahrgenommen haben. Die sich wöchentlich wiederholenden Trennungen am Montagmorgen waren für beide Seiten schmerzlich und haben oft tiefe Verletzungen hinterlassen. Schließlich gab es die Säuglingsdauerheime. Die waren für Kinder bestimmt, die gänzlich ohne ihre Familie aufwachsen mussten, weil zum Beispiel das Kindeswohl gefährdet war oder weil die Eltern aus unterschiedlichen Gründen nicht selbst für das Kind sorgen konnten, beispielsweise weil sie inhaftiert waren. Alle Kinder dort waren dauerhaft von ihren Eltern getrennt. Entsprechend problematisch war die Situation für das Personal, das sich um fünf oder zehn Kinder in besonders schwieriger Lage kümmern musste. Trotz der erschwerten Bedingungen wurde die Arbeit nicht besser vergütet als in den anderen Krippenformen. So war die Personalfluktuation in den Säuglingsdauerheimen besonders hoch, was tragisch war, weil gerade diese Kinder eine dauerhafte Bezugsperson brauchten, um den Verlust der Familie irgendwie kompensieren zu können. Säuglingsdauerheim wie Wochenkrippe sind mit tragischen Schicksalen verbunden, aber auch die Tageskrippen waren nicht unproblematisch.
Die Aufnahme beschreiben die DDR-Krippenforscher als einen physischen und psychischen Schock. Die mittelfristigen Wirkungen zeigten sich nicht nur in der psychischen Entwicklung, sondern beispielsweise auch in der Gewichts- und Längenentwicklung der Kinder.
"Die sich wöchentlich wiederholenden Trennungen
am Montagmorgen waren für beide Seiten schmerzlich
und haben oft tiefe Verletzungen hinterlassen"
In ihrem Buch schildern Sie schwerwiegende medizinische Probleme, häufige Erkrankungen von Krippenkindern und vorzeitige Todesfälle. An einer Stelle schreiben Sie, dass die DDR-Führung „den Tod von Säuglingen für die Gewinnung von Arbeitskräften billigend in Kauf“ genommen habe. Wie kommen Sie zu dieser Einschätzung?
Hier ist zwischen zwei Problemen zu unterscheiden. Zum einen verlief die gesundheitliche Entwicklung in Krippen anders als in Familien. Krippenkinder wurden häufiger krank, weil eine (im Vergleich zur Familienbetreuung) größere Zahl an gleichzeitig betreuten Kindern zu höheren Infektionsrisiken führte.
Das andere Problem betraf das Risiko der Säuglingssterblichkeit in der DDR, die sich nicht nur auf Krippenkinder bezog, sondern auf alle Kinder, deren Mütter nach sechs Wochen wieder in die Arbeit einsteigen mussten, egal ob sie dann in der Familie oder in der Krippe betreut wurden. Mitte der 1950er Jahre stellten DDR-Ärzte eine Unregelmäßigkeit in den Statistiken der Säuglingssterblichkeit fest. Am häufigsten traten Todesfälle von Säuglingen vor oder unmittelbar nach der Geburt auf. Je älter die Säuglinge waren, desto stabiler wurden sie in der Regel, weshalb ein Sinken der Wahrscheinlichkeit der Säuglingssterblichkeit von Woche zu Woche zu beobachten war. Nun stellten die Ärzte nach dem dritten Lebensmonat jedoch einen Anstieg der Säuglingssterblichkeit fest, der auch im internationalen Vergleich auffällig war. Der Grund dafür war das häufige Abstillen der Mütter nach vier Wochen, um nach sechs Wochen wieder arbeiten gehen zu können, was oft zu Ernährungsproblemen führte. Die Umstellung von Muttermilch auf künstliche Säuglingsnahrung war in den 1950er Jahren und Anfang der 1960er Jahre ein ungleich härterer Vorgang, als wir uns das heute vorstellen. Es kam immer wieder zu toxischen Dyspepsien und Ernährungsstörungen mit Brechdurchfällen. Wenn diese nicht gestoppt werden konnten, vertrockneten die Kinder gewissermaßen von innen, bis ihre Organe versagten. Zwischen 1952 und 1965 starben über 20.000 Säuglinge an Ernährungsstörungen und toxischen Dyspepsien.
Um diesen Ernährungsproblemen zu begegnen, schlugen Pädiater vor, den „Wochenurlaub“ für Mütter zu verlängern, um ihnen mehr Zeit zum Stillen zu geben, damit die Kinder beim Übergang zur Säuglingsnahrung stabiler waren. Vorbild dafür waren die Sowjetunion und die Tschechoslowakei (ČSSR). In der ČSSR war der „Wochenurlaub“ von den gleichen Ergebnissen ausgehend auf drei Monate ausgedehnt worden. In der DDR dauerte der „Wochenurlaub“ nur sechs Wochen; dieser war bereits in der SBZ 1945 von acht auf sechs Wochen verkürzt worden. Anhand der Akten sieht man, dass 1957 diskutiert wurde, wie zwischen dem Gesundheitsschutz der Säuglinge und dem Wiedereintritt der Mütter in den Beruf abzuwägen sei. Der Frauenberufstätigkeit wurde der Vorrang gegeben. An dieser Stelle spreche ich davon, dass man Todesfälle in der Folge in Kauf nahm, weil man wusste, dass man die Säuglingssterblichkeit durch die Verlängerung des Wochenurlaubs drastisch hätte reduzieren können. In der DDR starben 1961 fünfmal mehr Säuglinge an Magen-Darmerkrankungen als in der ČSSR. Es geht hier nicht um einen Vergleich mit der Bundesrepublik, sondern um den Vergleich mit einem sozialistischen Bruderland und um eine konkrete sozialpolitische Maßnahme, welche die immer wieder als familienfreundlich geltende DDR aus einer anderen Perspektive zeigt.
Sie erwähnten die sprachliche und kognitive Entwicklung. Welche Erkenntnisse gab es schon zu DDR-Zeiten über die Entwicklung der Kinder in unterschiedlichen Betreuungsformen?
Die Ergebnisse der Krippenforscher waren hier recht eindeutig. Die Kinder, die familiär betreut wurden, entwickelten sich besser als die Krippenkinder und die Kinder in Tageskrippen wiederum besser als die Kinder in Wochenkrippen und Säuglingsdauerheimen. Die Erkenntnisse der Krippenforscher zeigten in dieser Hinsicht sehr deutliche Entwicklungsverzögerungen der Krippenkinder gegenüber den Familienkindern. Die Tageskrippenkinder schnitten in diesen Tests schlechter ab als die Familienkinder. Die Wochenkrippenkinder schlechter als die Tageskrippenkinder und am Schlechtesten waren die Ergebnisse der Kinder in den Säuglingsdauerheimen. Man kann also sagen, je weniger Zeit die Kinder in den Familien verbrachten, desto schlechter waren ihre Entwicklungswerte in diesen Bereichen.
"Die Erkenntnisse der Krippenforscher zeigten sehr deutliche
Entwicklungsverzögerungen der Krippenkinder gegenüber den Familienkindern"
Wie ging man mit dem Problem des Hospitalismus von Kindern um?
Hospitalismus thematisierten Krippenforscher vor allem in den 1950er Jahren. Das Phänomen tritt in dieser Zeit häufiger auf, auch weil man die Krippen hier noch wie Krankenstationen führte, in denen die Kinder zwar qualifiziert gepflegt, ansonsten aber oft nur verwahrt wurden. Auch später findet man in den Akten immer wieder Hinweise auf psychischen Hospitalismus vor allem bei den Kindern der Wochenkrippen und Säuglingsdauerheime. In der Öffentlichkeit war der Begriff des Hospitalismus ab den frühen 1960er Jahren jedoch tabuisiert. Er galt als eine Erfindung des Klassenfeindes und seiner bürgerlichen Psychologie, welche nur den Zweck hätte, die sozialistischen Fortschritte bei der Krippenbetreuung und die Müttererwerbstätigkeit zu diskreditieren.
War das Krippensystem von der Bevölkerung gewollt oder war es staatlich verordnet?
In seinen Anfängen war das Krippensystem staatlich oktroyiert. In den ersten Jahren der DDR stießen Krippen in der Arbeiterschaft immer wieder auf Ablehnung und Abwehr. Sie kannte Krippen bis dato nur als einen wohlfahrtsstaatlichen Notbehelf für Kinder, um die sich die Eltern nicht kümmern konnten oder wollten. Es war für sie nicht einleuchtend, dass diese Einrichtungen jetzt der sozialistische Fortschritt sein sollten. Im Lauf der Jahrzehnte änderten sich die Einstellungen.
Die Krippe wurde zur Notwendigkeit, weil in der DDR in der Regel Mutter und Vater arbeiten mussten. Eine Familie mit nur einem Verdienst zu ernähren, war in der DDR kaum möglich. Zusätzlich gab es in der DDR nicht nur ein Recht auf Arbeit, sondern auch eine Pflicht zur Arbeit. Die Krippe wurde so zu Normalität.
Gab es dennoch Kritik am Krippenwesen in der DDR?
Es gab besorgte Eltern, die Missstände kritisierten. Es gab die DDR-Krippenforscher, die, mal offensiver, mal subtiler, Kritik übten. Und dann gab es die Krippenärzte, die am besten Bescheid wussten. Sie kannten die Krippen von innen durch ihre wöchentlichen Besuche und waren fachlich sehr gut ausgebildet. Sie thematisierten die Probleme auf ihren Kongressen und kritisierten das Krippenwesen hier sehr deutlich.
Wie reagierte die politische Führung auf Kritik an den Krippen?
Kritikern wurde immer wieder deutlich gemacht, dass Kritik an den Krippen als Angriff auf die sozialistische Frauenpolitik angesehen und nicht geduldet wurde. Es durfte nicht sein, dass man sich der Argumente der Klassenfeinde bediente. Wer es dennoch tat, musste mit Sanktionen rechnen.
Wie wird Ihr Werk aufgenommen, insbesondere in Ostdeutschland?
Ich denke, dass das Buch leider oft missverstanden wird, vor allem von Leuten, die nur den Titel gelesen haben und dann schon meinen zu wissen, was in dem Buch steht. Oft wird gedacht, dass jetzt ein Westdeutscher den Ostdeutschen erklären will, dass mit ihnen etwas nicht stimmt und die Krippen daran Schuld sind. Darum geht es in dem Buch nicht! Es geht auch nicht darum, die oft aufopferungsvolle Arbeit der Erzieherinnen in den DDR-Krippen schlecht zu reden oder Eltern anzuklagen, die ihre Kinder in die Krippe gebracht haben oder darzustellen, dass aus den Krippenkindern nichts Ordentliches geworden ist. Es geht in dem Buch um die Dokumentation des vorhandenen Fachwissens von den Ärzten, Psychologen und Krippenforschern in der DDR über die negativen Folgen der Krippenbetreuung zwischen 1949 und 1989. Es geht darum, anhand von Quellen zu zeigen, was man im Staatsapparat wusste, aber öffentlich nicht sagen durfte.
Zur Person:
Florian von Rosenberg veröffentlichte in diesem Jahr seine Untersuchung „Beschädigte Kindheit“ (C.H. Beck) über das Krippensystem in der DDR und seine Folgen. Der Erziehungswissenschaftler, Jahrgang 1980, ist seit Inhaber des Lehrstuhls für Allgemeine Erziehungslehre an der Universität Erfurt. Er hat Erziehungswissenschaft, Psychologie, Soziologie und Philosophie an der Freien Universität Berlin studiert. Im Jahre 2010 folgte die Promotion, 2013 habilitierte er sich an der Helmut-Schmidt-Universität in Hamburg.
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