Berlin, Donnerstag, 16. Januar, 11.30 Uhr. Die Sitzung des Bundestags ist unterbrochen. Etwas mehr als zwei Stunden lang haben die Abgeordneten bereits über die gesetzliche Neuregelung der Organspende debattiert. Nun soll namentlich abgestimmt werden. Zwei interfraktionelle Gruppenentwürfe und ein Antrag der AfD-Fraktion stehen zur Wahl. Wie üblich stimmen die Abgeordneten zunächst über den Entwurf ab, der am weitesten von der derzeitigen Regelung abweicht. Der trägt den Titel: „Entwurf eines Gesetzes zur Regelung der doppelten Widerspruchslösung im Transplantationsgesetz“. Er war von 226 Abgeordneten um Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) und den SPD-Gesundheitsexperten Karl Lauterbach in den Bundestag eingebracht worden. Die Unterstützer des Antrags wollen die Organspende zum Normalfall machen. Mit ihm soll die geltende Gesetzeslage in ihr Gegenteil verkehrt werden. Bisher gilt: Organspender ist, wer einer Organentnahme für den Fall zustimmt, dass Ärzte bei ihm einen nicht mehr behebbaren Ausfall sämtlicher Hirnfunktionen feststellen. Künftig soll gelten: Organspender ist, wer eine Organentnahme für den Fall, dass Ärzte bei ihm den irreversiblen Ausfall sämtlicher Hirnfunktionen diagnostizieren, nicht widersprochen hat.
Kabinett unterstützte beinahe vollständig die Widerspruchsregelung
Ein Paradigmenwechsel also. Einer, der sich großer Unterstützung erfreut. Im Mai 2018 sprach sich der Deutsche Ärztetag für eine Einführung der Widerspruchsregelung aus. Auch die Bundesärztekammer und die Deutsche Stiftung Organspende (DSO) meinen, auf diese Weise den vermeintlichen Mangel an Spenderorganen am zuverlässigsten bekämpfen zu können. Drei Tage vor der Abstimmung präsentierte die DSO die jüngsten Zahlen: Demnach standen 2019 mehr als 9.000 Menschen, die auf den Wartelisten für eine Organtransplantation geführt werden, 2.995 gespendete Organe gegenüber. Zahlen, die viele beeindrucken. Auch das Kabinett mit Kanzlerin Angela Merkel an der Spitze unterstützt beinah vollständig die Widerspruchsregelung. Allein Bundesjustizministerin Christiane Lambrecht (SPD) verweigert ihren Kollegen die Gefolgschaft. Um 11.33 Uhr eröffnet Bundestagsvizepräsident Wolfgang Kubicki die Sitzung erneut und verkündet das Ergebnis: „Abgegebene Stimmen: 674. Mit ,Ja‘ haben gestimmt: 292. Mit ,Nein‘ haben gestimmt: 379. Enthaltung: 3. Der Gesetzentwurf ist damit abgelehnt. Danach entfällt nach der Geschäftsordnung die dritte Beratung.“ Karl Lauterbach nimmt das Ergebnis stehend zur Kenntnis, die Arme vor der Brust verschränkt.
Als Kubicki die Zahl der Ja-Stimmen verliest, dreht er ruckartig den Kopf. Wie jemand, der einer Ohrfeige auszuweichen sucht. Dabei dürfte auch Lauterbach zu diesem Zeitpunkt längst gewusst haben, dass sein Gesetzentwurf keine Mehrheit erhalten wird. 355 Stimmen hätte es dafür gebraucht. Es wird die Deutlichkeit der Niederlage gewesen sein, die den Professor überraschte. Und tatsächlich sah es danach anfänglich gar nicht aus. Insgesamt 24 Redner bestritten die Debatte, jeder ausgestattet mit einer Redezeit von fünf Minuten. Elf warben, dem Stärkeverhältnis der Unterzeichner entsprechend, für die Widerspruchsregelung, zehn für den „Entwurf eines Gesetzes zur Stärkung der Entscheidungsbereitschaft bei der Organspende“, der von 194 Abgeordneten um Grünen-Chefin Annalena Baerbock und die ehemaligen Bundesgesundheitsminister Ulla Schmidt (SPD) und Hermann Gröhe (CDU) vorgelegt worden war, drei für den Antrag der AfD, über den am Ende gar nicht mehr angestimmt wurde. Bis etwa zur Hälfte der Debatte sah es – dem Applaus nach zu urteilen – nach einem Kopf-an-Kopf-Rennen der beiden Gruppenanträge aus, das von vielen erwartet worden war. Wobei der Applaus, den die Abgeordneten für ihre Rede erhalten, ein unsicherer Kantonist ist. Schon deshalb, weil sich von den Zuschauer- und Pressetribünen aus nicht zuverlässig feststellen lässt, wie viele Abgeordnete im Saal sind und wer sich zu Gesprächen in die hinteren Reihen zurückgezogen hat.
Dasselbe Ziel mit unterschiedlichen Mitteln
Als etwa Kanzlerin Angela Merkel um 10.46 Uhr den Plenarsaal betritt, begrüßt sie die Kabinettsmitglieder auf der Regierungsbank und zieht sich dann mit Annalena Baerbock unter die Tribünen zurück. Da hatte die Grünen-Chefin ihre Rede bereits absolviert. Im blutroten Kleid skizziert sie knapp die Gemeinsamkeiten und Unterschiede der beiden Gesetzentwürfe. Man verfolge dasselbe Ziel, nur die Mittel seien unterschiedlich. Dann sagt sie: „Wir stimmen hier heute über eine hochethische Frage ab: Wie kommen wir zu mehr Transplantationen? Wie retten wir mehr Leben? Wir stimmen aber darüber ab: Wem gehört der Mensch? In unseren Augen gehört er nicht dem Staat, nicht der Gesellschaft. Er gehört sich selbst, ungefragt, ohne Widerspruch.“ Für ihre Rede erhält die 39-jährige gefühlt dennoch nicht mehr Applaus als Hermann Otto Solms (FDP), der anschließend für die Widerspruchsregelung wirbt.
Das ändert sich erst, als nach etwa einer Stunde Thomas Oppermann ans Rednerpult tritt. Der ehemalige SPD-Fraktionsvorsitzende merkt an, dass Deutschland im Eurotransplant-Verbund das einzige Land ohne Widerspruchsregelung sei. Dann begeht der Polit-Routinier einen Anfängerfehler: Er unterstellt, kaum bemäntelt, den Gegnern der Widerspruchsregelung, nicht prinzipiellen Erwägungen, sondern niederen Beweggründen zu folgen. Er könne ja durchaus verstehen, stichelt Oppermann, „dass es Menschen gibt, die bei der Widerspruchsregelung ein Unbehagen empfinden, weil sie sich dadurch mit ihrem eigenen Tod oder mit den Konsequenzen ihres eigenen Todes auseinandersetzen müssen“. Wer jedoch „das Recht, in Ruhe gelassen zu werden, absolut setzt, gleichsam als Supergrundrecht (…), der verhindert am Ende, dass sich bei uns eine Kultur der Hilfsbereitschaft und der Nächstenliebe entfalten kann“. Das Raunen, das sich daraufhin im Plenarsaal erhebt, stachelt den SPD-Mann nur weiter an. „Das Recht, in Ruhe gelassen zu werden“, müsse mit dem „Recht auf Leben“ abgewogen werden. Nicht nur für ihn habe „Letzteres einen höheren Stellenwert“. Eine solche Bewertung stehe „auch im Einklang mit dem Menschenbild unseres Grundgesetzes“. Darin stehe „nicht das auf sich selbst bezogene, egoistische Individuum im Mittelpunkt, sondern der gemeinschaftsbezogene, gemeinschaftsgebundene Mensch“.
Ethische Grundprinzipien als Leitplanken
Als Hermann Gröhe als vorletzter Redner das Wort erhält, muss er die verbliebenen Unentschiedenen nur noch einsammeln. „Gerade bei schweren Entscheidungen“ müssten sich „unsere ethischen Grundprinzipien als Leitplanken bewähren“, beginnt der frühere Gesundheitsminister. „Wer einen Systemwechsel einfordert, der sollte gleichzeitig nicht kleinreden, um was es hier geht. Hier geht es nicht darum zu sagen, man wird doch wohl sagen können, entscheidet Euch. Es geht darum, ob der Staat das Selbstbestimmungsrecht des Menschen unter eine Bedingung stellt.“Eine Frage, die der Protestant klar beantwortet: „Jeder Mensch hat ein Selbstbestimmungsrecht. Dies ist der Anker unserer medizin-ethischen Grundüberzeugung, dies ist der Anker unserer Patientenrechte. Und auch das Recht auf körperliche Unversehrtheit muss ich nicht durch eine Widerspruchserklärung aktivieren, ich habe es, bedingungslos. Nur meine eigene Einwilligung kann es zurücktreten lassen.“
Als Spahn ans Mikrofon tritt, ist ihm die Enttäuschung ins Gesicht geschrieben. Der Katholik aus dem Münsterland, gegen dessen Widerspruchsregelung sich nicht nur der Bundesverband Lebensrecht, sondern auch die Bischofskonferenz, das Zentralkomitee der deutschen Katholiken und die Evangelische Kirche ausgesprochen hatten, weiß, dass er das Ruder nicht mehr rumreißen kann. Und so kündigt er an, dem Gesetzentwurf der Baerbock-Gruppe seine Stimme versagen zu wollen. Dabei wäre über diesen gar nicht abgestimmt worden, wenn die Widerspruchsregelung zuvor eine Mehrheit gefunden hätte. Um 12 Uhr verkündet Kubicki das Ergebnis der 3. Beratung des „Entwurfs eines Gesetzes zur Stärkung der Entscheidungsbereitschaft bei der Organspende“: „Abgegebene Stimmen 669. Mit ,Ja‘ haben gestimmt 432, mit ,Nein‘ haben gestimmt 200. Enthalten haben sich 37 Kolleginnen und Kollegen.“
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