Olaf Scholz

Olaf Scholz: Bilanz nach einem Jahr als Kanzler

Seit dem ersten Nachkriegskanzler Konrad Adenauer wird die Bundesrepublik Deutschland als „Kanzlerdemokratie“ bezeichnet. Wie schlägt sich der gegenwärtige Amtsinhaber Olaf Scholz?
Bundeskanzler Olaf Scholz mit Italiens Ministerpräsidentin Giorgia Meloni in Berlin
Foto: Wolfgang Kumm (dpa) | Bundeskanzler Olaf Scholz, hier mit Italiens Ministerpräsidentin Giorgia Meloni in Berlin, verfolgt einen politischen Schlingerkurs zwischen Härte, Zaudern und Kommunikationsunlust.

In der Mitgliederbefragung der SPD 2019 wurde Olaf Scholz als Vorsitzender nicht favorisiert – und im Bundestagswahlkampf 2021 verdankte Olaf Scholz seinen Wahlerfolg letztendlich den alten CDU-Granden, die Markus Söder verhindern wollten. Nun aber ist Scholz der Kanzler aller Deutschen und in diesen Krisenzeiten verdient er – salopp formuliert – unsere Unterstützung. Gleichwohl ist sein Ansehen in der Bevölkerung überschaubar, von irgendeinem Charisma kann nicht die Rede sein. Seine persönliche Integrität ist eigentlich unstrittig, es sei denn, es gibt noch unaufgedeckte Belastungen aus der Cum-Ex-Affäre in Hamburg.

Kommunikationsdürre à la Merkel

Dass Deutschland nicht bei der Lieferung von Kampfpanzern an vorderster Front stehen sollte, ist eigentlich nachvollziehbar: „To keep the Germans down“ war ja eine Devise bei der NATO-Gründung. Der Militarismus-Vorwurf gegenüber den Deutschen führte vor 76 Jahren gar zum Verbot von Preußen. Geschichtspolitisch betrachtet ist die zögerliche Haltung des Kanzlers durchaus verständlich und der Vorwurf Wladimir Putins in Wolgograd vom 3. Februar des Jahres, auf Stalingrad bezogen, bestätigt antideutsche Ressentiments.

Auf der anderen Seite spricht die SPD-Führung von der europäischen Führungsrolle Deutschlands. Eigentlich kann man sich diese Führungsrolle nicht aussuchen, sie besteht objektiv aufgrund der schieren Größe Deutschlands ohnehin. Die Frage ist allerdings, ob sie ausgefüllt wird. Scholz spricht von zusammenführen, was, wenn es gelänge, auch vorzeigbar wäre.

Lesen Sie auch:

Deutschland als mitteleuropäische Macht kann sich nicht verzwergen angesichts einer Aggressionspolitik Russlands. Es kann nicht passiv bleiben. Von daher war der Kanzler, deutsche Interessen wahrnehmend, gut beraten, seine militärische Unterstützung der Ukraine über das NATO-Bündnis abzusichern. Auch die Ausweitung der NATO in den osteuropäischen Raum, eine geopolitische Entscheidung nach dem Willen der beteiligten Länder, wurde gemeinschaftlich beschlossen. So gesehen konnten die USA verpflichtet werden, ihrerseits nun weiterhin stark aufzutreten. Ungewöhnlich bleibt, öffentlich auf die USA Druck auszuüben. Das kam dort nicht gut an. Die These, Kanzler Scholz wollte überhaupt keine Panzer liefern, bedarf noch tagesaktuell der Aufklärung.

Die Wiederbelebung des Weimarer Dreiecks läge nahe

Auffallend schwach ist der deutsch-französische Motor zu hören: Das Verhältnis Scholz-Macron ist kein Ruhmesblatt für den Kanzler. An sich läge die Wiederbelebung des Weimarer Dreiecks nahe. Es scheint auch an der notwendigen Chemie zwischen den drei Akteuren zu fehlen. Polen dagegen treibt den Kanzler eher vor sich her. Die Visegrad-Gruppe gewinnt weiter an Kontur, auch wenn Ungarn abseitige Politik betreibt. Schwieriger jedoch liegt der Krisenfall Russland. Dass der Kanzler einen persönlichen Draht zu Präsident Wladimir Putin aufrechterhalten möchte, ist sicherlich zweischneidig. Wenn es ihm gelänge, auf Putin Einfluss ausüben, wäre sein Ansehen größer. Die alte Ostpolitik der SPD – Frieden in Europa nur mit Russland zu arrangieren – ist gescheitert. Was Merkel vielleicht auf Zeit gelungen ist – in Dutzenden Gesprächen Putin mit Respekt zu begegnen und dabei oder dadurch noch international einzubinden, sozusagen zu deradikalisieren – kann Scholz nicht leisten, weil der Rubikon des Krieges überschritten wurde. Übrigens ist auch Macron ohne Merkel in Moskau nichts mehr geglückt. Und das Format von Scholz reicht bisher wenigstens nicht aus, eine internationale Zeitenwende hinzubekommen. „Nixon goes to China“ erwartet man von ihm sicherlich nicht.

Man tritt Olaf Scholz also nicht zu nahe, wenn man sagt, dass er das Format „Staatsmann“ nach einem Jahr Kanzlerschaft noch nicht ausfüllt. Führung in Europa zu zeigen, würde eigentlich die Aufgabe eines Staatsmanns ergeben. Zumal Scholz behauptete, wer bei ihm Führung bestelle, bekomme sie. Die Bevölkerung wartet darauf.

Europapolitisch wäre es gut möglich, Führung zu liefern. Denn die jahrzehntelange Selbstbeschäftigung der EU und diese immer tiefer und enger ausbauen zu wollen, hat die geostrategische und geopolitische Lage Europas vernachlässigt. Nicht nur die Energieversorgung ist plötzlich ein großes Thema: Scholz könnte eine Geostrategie für Europa entwickeln, auf die der Kontinent wartet, da seine geopolitische Lage auf dem Westzipfel des eurasischen Doppelkontinents prekärer wird. Eine „europäische Seidenstraße“ war früher schon mal vorgeschlagen worden. Der Global Gateway der EU ist nun ein Aufbruch in die richtige Richtung. Und auch gegenüber Afrika, das von Migrationswellen heimgesucht wird, könnte ein führungsstarker Kanzler große europäische Aufgaben zum besseren Aufbruch des afrikanischen Kontinents entwickeln. Für ein Land wie Deutschland, das nur wenig in Kolonialabenteuer verstrickt war, stellen sich hier Aufgaben. Es bedarf nicht nur einer China-, sondern auch einer Afrika-Strategie.

Zurück zu Deutschland. Das Bundeskabinett bereichert die deutsche Diversitätsdiskussion um eine politische Variante. Die Dreier-Koalition verlangte eigentlich nach Führung. Der Kanzler hat in seiner kurzen Regierungszeit schon von seiner Richtlinienkompetenz Gebrauch machen müssen und setzte auch einen Teilverkauf des Hamburger Hafens an China durch. Es muss kein schlechtes Zeichen sein, dass er Entscheidungen zwischen zerstrittenen Parteien herbeiführt. im Vergleich der Kanzler ist es allerdings ungewöhnlich, weil an sich die Autorität des Kanzlers ausreicht, um Kabinettsdisziplin zu bewahren.

(Noch) kein großer Staatsmann

Scholz ist in seiner Fraktion mit einer großen Gruppe von Jungsozialisten konfrontiert und auch von Linken in seiner Partei umgeben, die ihn, wie erwähnt, nicht gewählt haben. Der Fraktionsvorsitzende Rolf Mützenich hat zum Beispiel die realpolitisch aufgestellten Wehrexperten der Partei wie Hans-Peter Bartels und Fritz Felgentreu, lange vor Kriegsbeginn, unter Wert behandelt. Und Christine Lambrecht gegen eigene frühere Absichten von ihr im Kabinett zu belassen und sie als Verteidigungsministerin zu benennen, offenbarte eine Fehleinschätzung der sicherheitspolitischen Lage in Europa durch den Kanzler.

Lesen Sie auch:

Sicherlich wiederum eindrucksvoll war die Rede vom 27. Februar 2022 ein Aufbruch, aber auch eine Art Überwältigung der eigenen Fraktion, wie man beobachten konnte. Erschwerend kommt für den Kanzler hinzu, dass seine Partei aus einer Doppelspitze besteht, was ein Stück weit unerklärlich ist, weil die amtierende Vorsitzende ohne sichtbare Kompetenz an der Spitze ausharrt, obgleich die Schlagzeilen für sie ungünstig sind. Auch mit seiner Außenministerin hat der Kanzler eine seine Reputation tangierende Differenz auszuhalten. Hinzukommt die koalitionsinterne Kritik der Vorsitzenden des Verteidigungsausschuss, Marie-Agnes Strack-Zimmermann, die dazu neigt, Tacheles zu reden, wenn es nötig ist und es war öfters nötig.

Ähnlich wie seine Vorgängerin Angela Merkel gefällt sich der Kanzler darin, wenig zu kommunizieren. Nicht nur Macron hat damit seine Probleme, sondern die deutsche Öffentlichkeit ist oft alleingelassen, wenn es eigentlich darum gehen müsste, dass ihr der Kurs der Regierung zu erklären wäre. Einen kommunikationsfreundlichen Kanzler haben wir sicherlich nicht. Jedoch: Politik zu erklären und damit für politische Aufmerksamkeit in der breiten Bevölkerung zu sorgen, ist nicht die Aufgabe des Bundespresseamtes, sondern des Chefs der Regierung persönlich. In einer Kanzlerdemokratie kommt es nun mal auf diese Nummer eins an. Mit guter Kommunikation kann Vertrauen für die Regierung entstehen, denn nicht alle Menschen sind politisch interessiert, obgleich sie wählen gehen.  Denn: Aufklärung ist sozusagen Kanzlerpflicht, zumal in politikverdrossenen Zeiten und unter Umständen diverser Krisen. Hier zu versagen schadet auch der Parteiendemokratie, was angesichts der Existenz von radikaleren Parteien und ihrer nicht unbeträchtlichen Zustimmung in Wählerkreisen nicht nur für die regierende SPD eine unglückliche Entwicklung ist, sogar der politischen Kultur schadet.

Gesellschaftsverändernde Eingriffe in die Entwicklung Deutschlands

Dass man den Kanzler auch mit gesellschaftspolitischen Positionen, die im Koalitionsvertrag festgeschrieben sind, konfrontieren könnte, liegt für die Opposition nahe, die aber ihrerseits bisher wenig Eindruck macht. Die Freigabe von Cannabis, die Erleichterung der Geschlechtswahl, Vorhaben zur Erleichterung der Abtreibungsmöglichkeiten, das Herabstufen der Hürden, die deutsche Staatsbürgerschaft annehmen zu dürfen und vieles mehr sind gesellschaftsverändernde Eingriffe in die Entwicklung Deutschlands, die bisher wenig Aufsehen erregen. Der Kanzler verantwortet diese Linie. Die FDP trägt sie mit – sicherlich nicht ausschließlich zu ihrem Vorteil.

Fazit: Bundeskanzler Scholz polarisiert nicht, er ist ein ausgeglichener und moderater Kanzler, der nicht viel Aufsehen macht. Seine Performanz hält sich in Grenzen. Deutschland braucht keine Art Boris Johnson an der Spitze, aber dennoch, ein wenig mehr Begeisterung, Leidenschaftlichkeit und Mitteilsamkeit wäre für eine politische Kultur in multiplen Krisenlagen staatspolitisch wünschenswert, ja notwendig. Manche Politiker, die ein Amt übernommen haben, sagt man, wachsen mit ihren Aufgaben. Bleibt für Deutschland zu hoffen, dass die Kanzlerdemokratie bis zur nächsten Bundestagswahl noch zu voller Form aufläuft. Skepsis zu haben ist jedoch mit Sicherheit erlaubt.


Tilman Mayer lehrt Politikwissenschaft an der Universität Bonn und leitet den Masterstudiengang „Politisch-Historische Studien“.

Die Printausgabe der Tagespost vervollständigt aktuelle Nachrichten auf die-tagespost.de mit Hintergründen und Analysen.

Themen & Autoren
Tilman Mayer Angela Merkel Boris Johnson Christine Lambrecht FDP Hans-Peter Bartels Jungsozialisten Konrad Adenauer Kriegsbeginn Markus Söder Olaf Scholz Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Rolf Mützenich SPD Wladimir Wladimirowitsch Putin

Weitere Artikel

Deutschland traut sich nicht, klare Ziele zu formulieren und Werte, die dorthin führen. Das sorgt für Orientierungslosigkeit außenpolitisch, aber auch im Land selbst.
30.06.2022, 15 Uhr
Veronika Wetzel
Heute nimmt die Ampel-Koalition im Bund ihre Arbeit auf. Manch eine Minister-Entscheidung, wie etwa die Ernennung Christine Lambrechts zur Verteidigungsministerin, wirft Fragen auf.
08.12.2021, 11 Uhr
Carl-Heinz Pierk

Kirche

Was auf „synodalen Wegen“ derzeit geschieht, ist mehr als die Wiederholung altbekannter Forderungen.
21.03.2023, 19 Uhr
Martin Grichting