Es ist 14 Jahre her, da versammelte sich im hippen Berliner Café Einstein eine Runde jüngerer CDU-Politiker. Ihr Ziel: Die Union, die damals unter der ersten Großen Koalition mit der SPD ätzte, wieder konservativer zu machen. Einige von denen, die damals mitgemacht haben, spielen mittlerweile politisch keine Rolle mehr. Zwei aber stehen heute an der Spitze der beiden wichtigsten Bundesländer: Markus Söder in Bayern und Hendrik Wüst in NRW. Eigentlich könnten die Forderungen von damals zur Leitlinie der Oppositionspolitik der Union heute werden. Schließlich nehmen die beiden Köpfe der einstigen „Einstein-Connection“ heute Schlüsselpositionen in der Politik ein.
Konservatives Profil eher hinderlich
Aber es ist nicht so. Und das hängt wohl vor allem damit zusammen, dass beide zwei Wahlen zu gewinnen haben - und ein dezidiert konservatives Profil scheint da eher hinderlich: Söder muss im nächsten Jahr eine Landtagswahl bestehen, Wüst hat nun am Sonntag seine Bewährungsprobe. Von dem forschen Konservativen, der der 46-jährige Westfale einmal war, ist wenig geblieben. Noch in seiner Zeit als Generalsekretär der NRW-CDU in der Ära Rüttgers galt Wüst als harter Hund, der auch kräftig an den politischen Gegner austeilen konnte.
Doch dann kam der tiefe Fall: Im Zuge der sogenannten Sponsoring-Affäre – potenziellen Sponsoren des Parteitags waren seitens der Partei gegen Bezahlung Einzelgespräche mit Ministerpräsident Jürgen Rüttgers angeboten worden – nahm Wüst 2010 seinen Hut. Er saß zwar weiter im Landtag, profilierte sich vor allem als Wirtschaftspolitiker, blieb aber doch in der zweiten Reihe.
Der große Geläuterte
Doch dann ermöglichte Hendrik Wüst der überraschende Sieg von Armin Laschet bei der Landtagswahl vor fünf Jahren ein überraschendes Comeback: Er wurde Verkehrsminister im neuen Kabinett. Und plötzlich präsentierte sich der Jurist ganz anders. Weniger kämpferisch, verbindlicher im Tonfall. Seither gilt Wüst als der große Geläuterte in der NRW-Politik. Mittlerweile verheiratet und Vater einer kleinen Tochter schien er zur Ruhe gekommen zu sein. Eigenschaften, die auch einem Landesvater gut zu Gesicht stehen. Als dann nach dem Ausflug Laschets in die Bundespolitik ein neuer Ministerpräsident gesucht wurde, kam ihm dieses neue Image zu Gute. Und so wurde Wüst zur neuen Nummer eins.
Die Metamorphosen von Wüst lohnen einen Vergleich mit Markus Söder, der ja ebenfalls in den letzten Jahren beachtliche Wandlungen vollzogen hat. Sie verbindet, dass sie weiterhin wohl mehr oder weniger, ohne mit der Wimper zu zucken, Schlüsselpassagen ihres einstigen konservativen Profilierungspapiers unterschreiben könnten, gleichzeitig aber Akzente setzen, die bewusst darauf abzielen, auch jenseits des konservativen Wählerklientels zu punkten. Damals hieß es etwa, die Union müsse sich wieder stärker auf ihre Wurzeln besinnen, um so zu der politischen Kraft eines „modernen bürgerlichen Konservativismus“ zu werden. Die 68er bekamen ihr Fett weg. Und ein anderer Evergreen konservativer Unionspolitiker wurde damals ebenfalls abgespult: Das „C“ müsse wieder ein stärkerer Orientierungspunkt für die Partei werden.
Fast bis zur Schmerzgrenze vergrünt
So oder so ähnlich, wenn vielleicht auch etwas schwächer akzentuiert, könnte man das auch heute noch in Wahlkampfreden von beiden hören. Aber gleichzeitig bedienen sie auch noch ein anderes Klientel. Söder hat die CSU fast bis zur Schmerzgrenze vergrünt, hat sich der Frauenförderung verschrieben und posiert auch gerne vor in Regenbogenfarben erleuchteten Fußballstadien.
Wüst nimmt ebenfalls klar Kurs auf die vermeintliche Mitte der Gesellschaft: Ausgerechnet oder eher bezeichnenderweise im „Queer-Magazin“ verkündete der Ministerpräsident in einem Beitrag Ende April, er befürworte, dass die sexuelle Identität als Merkmal im Grundgesetz im Artikel 3, Absatz 3, ergänzt werde.
Religiöse Vielfalt als Bereicherung
Wüst präsentierte sich als jemand, der aus der Geschichte gelernt habe. Kurz zuvor hatte er sich mit einem Teilnehmer der ersten großen Demonstration von Homosexuellen in Münster aus dem Jahre 1972 getroffen. Dieser Protest sei ein Meilenstein gewesen, bekannte er.
Gleichzeitig verliert der 46-jährige Jurist aber auch nicht die Law an Order-Themen aus dem Blick. Einerseits kann er sich hier auf seinen Innenminister Herbert Reul (CDU) verlassen, der mit seiner Bekämpfungsstrategie gegen libanesische Clans zu den Stars des Kabinetts gehört. Wüst seinerseits griff die Debatte um den Muezzin-Ruf in Köln auf. Er mahnte in einem Interview mit der Katholischen Nachrichten-Agentur, dass regelmäßige Muezzin-Rufe die bestehende gesellschaftliche Toleranz gefährden könnten.
In einem Interview mit der NZZ ruderte er dann wenige Tage später wieder zurück: Seine Position sei verkürzt wiedergegeben worden. Ein Muezzin-Ruf könne durchaus auch ein Zeichen der Integration sein, man müsse nur Umsicht bei der Umsetzung zeigen. Grundsätzlich sei die Vielfalt an verschiedenen Glaubensüberzeugungen eine Bereicherung für das Land. Wie überhaupt die Leistung der Einwanderer für den wirtschaftlichen Aufbau der Landes mehr gewürdigt werden müsse. Also auch hier wieder der neue alte Ansatz: Möglichst so formulieren, dass man niemanden vor den Kopf stößt und auch nirgendwo aneckt.
Wählermagnet für enttäuschte konservative Wähler
Freilich scheint Wüst mit dieser Strategie durchaus zu reüssieren. Nach aktuellen Umfragen liegt er leicht in Führung. Sein direkter Gegenkandidat von der SPD, der frühere Justizminister Thomas Kutschaty, findet wenig Angriffsfläche. Grüne und FDP hoffen wohl vor allem darauf, dass sie Partner einer künftigen Zweierkoalition werden könnten. Und die AfD, die zwar sicher in den Landtag einziehen wird, hat in NRW genug mit internen Streitigkeiten zu kämpfen, um zum Wählermagneten für enttäuschte konservative Wähler zu werden.
Wer Ministerpräsident in NRW wird, der hat automatisch auch einen Zugriff auf die Kanzlerkandidatur. Die glücklose und mittlerweile weithin vergessene SPD-Ministerpräsidentin Hannelore Kraft hat am eigenen Leib erleben können, was es bedeutet, dies nicht zu berücksichtigen. Nachdem sie verkündet hatte, dass sie keine Ambitionen habe, nach Berlin zu gehen, hatte sie sich gleichzeitig auch machtpolitisch in ihrer Landespartei kalt gestellt. Wenig später verlor sie auch die Landtagswahl.
Wüst wird so ein Schicksal nicht riskieren wollen. Wenn er gewinnen sollte, dann ist er auch im Bund am Zug. Freilich müsste er dann auch mit seinem einstigen Einstein-Partner Markus Söder über eine mögliche Kandidatur übereinkommen. Es könnte spannend werden, welche Light-Version des „Modernen Konservatismus“ attraktiver ist, die fränkische oder die westfälische? Zur Absprache könnten sich beide im Berliner Café treffen.
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