Herr Posselt, wie schauen Sie auf die Ereignisse der letzten Tage? Können Sie verstehen, dass viele Bürger sich jetzt von Europa abwenden und sich in ihren Vorurteilen gegenüber der EU bestätigt fühlen?
In den schockierenden Ereignissen der letzten Tage zeigt sich kein Versagen der EU, sondern der Nationalstaaten. Sie müssen in ihre Schranken gewiesen werden.
Aber zeigt nicht gerade das Procedere im Vorfeld der Nominierung von Ursula von der Leyen zur Kommissionspräsidentin, dass die Nationalstaaten letztlich die entscheidenden Machtfaktoren sind und eben nicht das Europaparlament?
Das stimmt nicht. Die EU ist eine Rechtsgemeinschaft. Und das Europäische Parlament hat sich eine Reihe von Rechten erkämpfen können. Unter anderem etwa die Wahl des Kommissionspräsidenten auf Vorschlag des Europäischen Rates. Noch ist Frau von der Leyen nicht gewählt.
"Ich habe die Sitzungen der EVP-Fraktion
in den letzten Tagen miterlebt.
Da wäre es beinahe zur Revolution gekommen"
Ich habe die Sitzungen der EVP-Fraktion in den letzten Tagen miterlebt. Da wäre es beinahe zur Revolution gekommen. Wenn nicht Manfred Weber verzichtet hätte, um die Institutionen nicht weiter zu beschädigen.
Wäre es nicht besser gewesen, wenn es tatsächlich zur Revolution gekommen wäre? Das hätte doch die politische Kraft des Parlamentes unterstrichen?
Ich wäre auch für eine härtere Gangart gewesen. Aber man darf eines nicht unterschätzen: Im Moment wird über eine Reform des Wahlverfahrens debattiert. Es geht darum, dass künftig das Parlament den Kandidaten für die Präsidentschaft vorschlägt und der Rat nur ein Veto-Recht erhält.
"Von der Leyen nur dann eine Chance, wenn
sie bei ihren Vorstellungsrunden in
den Fraktion deutlich macht, dass
sie sich für diese Reform einsetzen wird"
Meiner Meinung nach hat Frau von der Leyen nur dann eine Chance, wenn sie bei ihren Vorstellungsrunden in den Fraktion deutlich macht, dass sie sich für diese Reform einsetzen wird. Wenn man auf die Geschichte schaut, sieht man, dass Krisen immer die Augenblicke waren, in denen sich Europa weiterentwickelt hat. Deswegen muss das Europäische Parlament jetzt kämpfen. Die Regierungschefs verhalten sich manchmal wie absolute Herrscher.
Ihrer Meinung nach ist das Spitzenkandidatenmodell also noch nicht endgültig gescheitert?
Nein. Vor fünf Jahren hat es ja funktioniert. Das lag aber vor allem an Martin Schulz, der Jean-Claude Juncker unterstützt hat. Dieses Mal haben Sozialdemokraten und Liberale aus parteitaktischen Gründen anders agiert.
Noch einmal zu den absoluten Herrschern: Wie bewerten Sie die Rolle des französischen Staatspräsidenten Emmanuel Macron?
Er hat sich wie ein trotziges Kind in der Pubertät benommen. Offensichtlich fühlte er sich mit seinen Reformvorschlägen nicht ausreichend gewürdigt. Ich stimme nicht allen seinen Ideen zu. Aber er wollte immerhin wirklich politische Reformen anpacken. Schon Kohl hat immer gesagt: „Man muss die Trikolore dreimal grüßen.“ Das heißt nicht, dass man etwa die Beziehungen zu den kleineren Staaten vernachlässigt. Aber es gilt, was der Gründer der Paneuropa-Union, Richard von Coudenhove-Kalergi, immer gesagt hat: Eine europäische Einigung mit Frankreich werde schwierig. Aber ohne Frankreich wäre sie unmöglich.
Welche Rolle kommt in Zukunft auf Deutschland zu?
Es sind im wesentlichen drei Punkte: Erstens müssen Deutschland und Frankreich wieder als Kern der EU wiederbelebt werden. Zweitens darf aber nicht der Eindruck entstehen, es herrsche ein deutsch-französisches Direktorium. Drittens muss es schließlich darum gehen, das weitere Auseinanderdriften zwischen Ost und West zu verhindern.
"Ich halte Frau von der Leyen für eine hoch
kompetente Person für diese Position.
Sie kann letztlich nichts
für das inakzeptable Verfahren"
Muss das aus Ihrer Sicht auch das Programm von Ursula von der Leyen als Kommissionspräsidentin aus Deutschland sein?
Zunächst einmal will ich feststellen: Ich halte Frau von der Leyen für eine hoch kompetente Person für diese Position. Sie kann letztlich nichts für das inakzeptable Verfahren. Gleichwohl sage ich wiederum: Noch ist sie nicht gewählt.
Ich bin mir auch nicht sicher, ob Frau von der Leyen ausschließlich als deutsche Kommissionspräsidentin wahrgenommen werden würde. Sie wird zunächst einmal vor der Herausforderung stehen, zwischen ihren gegensätzlichen Unterstützern ausgleichen zu müssen. Da ist auf der einen Seite der spanische Ministerpräsident, Pedro Sánchez, ein Sozialist. Auf der anderen Viktor Orban aus Ungarn.