Vor der Bundestagswahl 2021 deutete vieles auf ein schwarz-grünes Bündnis hin. Bereits 2013 war es arithmetisch, aber nicht politisch möglich, 2017 wiederum politisch, aber nicht arithmetisch. Beide Kräfte folgten 2021 der Binnenlogik. anstatt auf Volkes Stimme zu hören, und begingen einen schweren Fehler: Die Spitzenfunktionäre der CDU wollten unbedingt ihren Vorsitzenden Armin Laschet auf den Schild heben und nicht den Kandidaten der CSU, die Grünen eine Frau mit ihrer Vorsitzenden Annalena Baerbock. Diese beiden Spitzenkandidaten boten im Wahlkampf 2021 ein irritierend schwaches Bild.
Hingegen votierte die SPD mit Olaf Scholz für eine Person, die zwar den Kampf um den Parteivorsitz verloren hatte, aber über mehr Zustimmung im Elektorat verfügte und sich im Wahlkampf keine Blößen gab. Nun schaffte es die lange totgesagte SPD auf den ersten Platz. So viel dürfte feststehen: Bei einer Konkurrenz durch Markus Söder und Robert Habeck wäre dies wohl nicht passiert. So stand eine lagerübergreifende Koalition aus SPD, Grünen und Liberalen an, wobei die Sozialdemokraten über weniger Mandate verfügten als Grüne und Liberale zusammen. Vollmundig sprach der Koalitionsvertrag von einer „Fortschrittskoalition“.
Wenig überzeugende Regierungsparteien
Die vier Landtagswahlergebnisse 2022 lassen keine klare Tendenz für die SPD und die CDU erkennen. Die SPD verbuchte im Saarland und in Niedersachsen klare Wahlsiege, die CDU in Schleswig-Holstein und Nordrhein-Westfalen. Der Hauptgrund ist weniger bundespolitischer Natur: Angesichts der schwächer gewordenen Parteiidentifikation spielt die Rolle des Spitzenkandidaten als Wahlgrund eine immer stärkere Rolle. Gewann die eine Regierungspartei, Bündnis 90/Die Grünen, überall Stimmen dazu, zum Teil massiv, brach die andere, die FDP, massiv ein.
Auch bei den beiden Flügelparteien hagelte es Niederlagen. Das beste Ergebnis der Partei Die Linke betrug 2,7 Prozent (in Niedersachsen), und die AfD konnte nur in Niedersachsen angesichts der schlechten Stimmung in letzter Zeit ihren Anteil deutlich steigern, während sie zum ersten Mal ein Landesparlament (Schleswig-Holstein) nach einer Legislaturperiode bereits wieder verlassen musste.
Wer die Meinungsumfragen zur Bundestagswahl betrachtet, erhält ein klareres Bild: Legt eine Regierungspartei (Bündnis 90/Die Grünen) deutlich zu, verlieren zwei Regierungsparteien Stimmen (SPD und FDP). Hingegen steigern sich zwei Oppositionsparteien beträchtlich (CDU/CSU, AfD), während Die Linke nicht von der Schwäche der Regierung zu profitieren versteht, ganz im Gegenteil. Ein solcher Befund muss überraschen: Denn gemeinhin profitiert die Regierung, speziell die stärkste Kraft, in einer von außen herbeigeführten Krise, wie dies durch den Ukraine-Krieg gilt und als Folge für die Energiekrise mit hoher Inflation. Der Beispiele gibt es genug.
Der Bürger hat den Eindruck: jeder gegen jeden
Wenn das diesmal anders ist, liegt es wesentlich an der mangelnden Dominanz der Regierung und an ihrer Zerstrittenheit. Von der anfänglichen Aufbruchstimmung, die Geschlossenheit erkennen ließ, ist wenig zu spüren. Gewiss, niemand konnte mit einem Krieg gegen die Ukraine und den fatalen Folgen rechnen, aber gerade deshalb wäre eine klare Führung unerlässlich. Der Bürger hat jedoch den Eindruck: jeder gegen jeden. Da giften sich Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) und Justizminister Marco Buschmann (FDP) an: Der eine warnt mit Blick auf Corona vor Gefahren, der andere wirft diesem Panikmache vor; während Außenministerin Annalena Baerbock (B 90/Grüne) stereotyp davon spricht, die Ukraine müsse den Krieg gegen Russland gewinnen, kommt der Verteidigungsministerin Christine Lambrecht (SPD) das Wort „gewinnen“ nicht über die Lippen; erklärte Wirtschaftsminister Robert Habeck (Bündnis 90/Die Grünen), die Zeit der Atomkraft sei vorbei, nahm Christian Lindner eine gegenteilige Haltung ein.
Dass Olaf Scholz jüngst in der Kernenergiefrage von seiner Richtlinienkompetenz Gebrauch gemacht hat, ist bloß ein Zeichen simulierter Stärke: Das Ergebnis, das wohl auf einer Absprache mit den Koalitionspartnern fußt – drei (nicht: zwei, wie von Grünen gewollt) Kernkraftwerke bleiben bis Mitte April 2023 in Betrieb (nicht: bis 2024, wie von den Liberalen gefordert) – läuft auf einen angestrebten Kompromiss hinaus. So wahren Liberale und Grüne ihr Gesicht.
Scholz kann es sich in einer so labilen wie heterogenen Koalition gar nicht erlauben, die Richtlinien der Politik ohne Einbeziehung der Partner zu bestimmen. Und die FDP, die mit dem Rücken zur Wand steht, feiert das Votum des Kanzlers als Sieg, obwohl es dies für sie wahrlich nicht ist.
Die Liberalen haben die größten Schwierigkeiten, ihre Klientel bei der Stange zu halten. In Sonderhaushalten hat die FDP, die für eine „Schwarze Null“ und einen „schlanken Staat“ steht, unter ihrem Finanzminister massive Schulden aufgenommen: 200 Milliarden für die Gaspreisbremse, 100 Milliarden für die Bundeswehr und 60 Milliarden für den Klimaschutz.
Doch die Politik der Regierung verhält sich nicht so, als stünden wir vor der vielbeschworenen „Zeitenwende“: Sie provoziert bei Schlüsselthemen geradezu Unmut, wohl auch unterschiedlich motivierte Radikalisierung auf den Straßen. Angesichts gravierender Probleme hadert die Bevölkerung mit der Regierung. Nach einer neuesten Umfrage des Instituts für Demoskopie Allensbach glauben zwei Drittel der Bevölkerung, die Regierung habe die Lage nicht im Griff, und lediglich jeder Fünfte bejaht die Aussage. Selbst die Anhänger aller drei Regierungsparteien bilden keine Ausnahme.
Gleichwohl müssen die Proportionen gewahrt werden: Parallelen etwa zur Weimarer Republik treffen nicht die Wirklichkeit, denn nach wie vor gilt Deutschland für viele als ein Land des sehnsuchtsvollen Wohlstandes. Immer mehr Menschen aus dem Ausland gelangen nach Deutschland – die Einwanderung in die Sozialsysteme ist offenkundig. Ein sinnvolles Einwanderungsgesetz, versäumt schon von der Merkel-Regierung, ist bisher nicht auf den Weg gebracht worden. Die Einreise für Fachkräfte muss erleichtert, das Vollzugsdefizit für Personen, die kein hiesiges Aufenthaltsrecht haben, beseitigt werden.
Ebenso schwache Oppositionsparteien
Das Urteil über die parlamentarischen Oppositionsparteien fällt nicht besser aus. Die Union, die auf ihrem Parteitag im September eine paritätische Frauenquote für Vorstandsposten und Listenplätze bis zum Jahre 2025 beschlossen hat, laviert unter ihrem neuen Vorsitzenden Friedrich Merz, der sich von früheren Positionen der Partei für die einen zu wenig, für die anderen zu stark trennt, und bei der Bevölkerung nicht so „ankommt“, wie von ihm erhofft. Er scheint auf die Grünen zu setzen, nicht auf die Liberalen, wohl aus wahltaktischer Strategie, weniger aus Überzeugung.
Die AfD punktet angesichts der schwierigen wirtschaftlichen Situation zwar bei Umfragen, aber an ihrer Spitze stehen keine überzeugenden Personen, die die Auseinandersetzung mit extremistischen Positionen in ihren Reihen scheuen. Ihr Umfrage-Hype beruht weniger auf einer Zustimmung zur Partei als auf einem Protestvotum. Sie hat in vielen Fragen, die Bürger bewegen, ein Alleinstellungsmerkmal und füllt damit eine Repräsentationslücke. Die Abgrenzung des Establishments von dieser Kraft ist nachvollziehbar, weniger jedoch die Ausgrenzung, etwa innerhalb des parlamentarischen Betriebes. Mehr Integration durch die Konkurrenz schwächt die Partei.
Die Linke ist in einem desolaten Zustand. Sie scheint nicht von den Schwächen der Regierungsparteien zu profitieren. Es tobt ein Machtkampf zwischen der Richtung um Sahra Wagenknecht, die in der Partei eine Minderheitenposition einnimmt, jedoch gesellschaftlich weitaus mehr Anklang findet, und der Führung um Janine Wissler und Martin Schirdewan. Für Wagenknecht sind die Grünen „die gefährlichste Partei“ im Bundestag. Sie sieht in ihnen den Prototyp einer „Lifestyle-Linken“. Laut Umfragen würden zehn Prozent eine Wagenknecht-Partei „sehr sicher“ wählen. Umfragen sind freilich das eine, Wahlergebnisse das andere. Wagenknechts vor Jahren ins Leben gerufene Sammlungsbewegung „Aufstehen“ ist bekanntlich kläglich gescheitert.
Ungeachtet der keineswegs überzeugenden, weil in sich zerstrittenen Regierung spricht wenig für ein Auseinanderbrechen der Koalition, die angesichts der höchst unterschiedlichen Ausgangspositionen niemals ein „Projekt“ war. Eine Alternative fehlt: Einem Bündnis von Union und FDP mangelt es an einer arithmetischen Mehrheit, einem Bündnis von SPD und Union an einer politischen. Ein Regierungswechsel kann nur über Neuwahlen führen. Dann wäre der Weg für Schwarz-Grün wohl frei. Ob das aber ein Königsweg ist?
Eckhard Jesse, Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Politikwissenschaft von 2007 bis 2009, ist emeritierter Professor für Politikwissenschaft an der TU Chemnitz und Parteien- und Wahlforscher.
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