Wenige Stunden nach der Ermordung des russischen Oppositionellen Boris Nemzow am 27. Februar im Zentrum von Moskau waren vier verschiedene, den Kreml entlastende Theorien in Umlauf: Es könne ein Mord aus Eifersucht, aus islamistischem Hass, wegen mafioser Geschäftsverbindungen oder ein Versuch, Russland zu destabilisieren, gewesen sein, wurde eifrig verbreitet. Die von Putin eingesetzten Ermittler entschieden sich rasch für die islamistische Option: Der Tschetschene Saur Dadajew wurde verhaftet, von Putins tschetschenischem Statthalter Ramsan Kadyrow öffentlich beschuldigt, war angeblich geständig und hätte so Teil einer raschen Problemlösung des Kreml sein können. Kadyrow, der Tschetschenien für Moskau mit harter Hand regiert, wurde am Montag von Putin mit dem „Orden der Ehre“ ausgezeichnet.
Doch dann stellte ein Mitglied des russischen Menschenrechtsrats beim vermeintlichen Hauptverdächtigen und bei weiteren Verhafteten Spuren von Folter fest. Auch widerrief Dadajew sein offenbar unter Folter gemachtes „Geständnis“. Er sei erpresst, aber von der Richterin gar nicht angehört worden, so Saur Dadajew. Schließlich stellte sich noch heraus, dass der Hauptbeschuldigte selbst Mitarbeiter des tschetschenischen Innenministeriums war, und just am Tag nach Nemzows Tod gekündigt wurde.
Das Europäische Parlament sieht den Mord im Gegensatz zu den Moskauer Behörden in einem Kontext damit, „dass Boris Nemzow in den Wochen vor seiner Ermordung die Beteiligung Russlands am Konflikt im Donezbecken untersuchte und beabsichtigte, einen Bericht über seine Ergebnisse zu veröffentlichen“, wie es in einer Erklärung vom Donnerstag heißt.
EU-Außenbeauftragte Federica Mogherini erinnerte in Straßburg daran, dass Nemzow „Beweismaterial für die russische Beteiligung am Krieg in der Ukraine“ zusammengestellt habe. Sie mahnte, die russischen Bürger hätten ein offenes und demokratisches Russland verdient, und kritisierte, „dass die freie Meinungsäußerung in Russland immer stärker unter Druck geraten ist“. Oppositionsparteien hätten keinen Zugang zu Medien. „Einige haben Russland verlassen, weil sie Freiheit wünschten oder um ihr Leben fürchten.“ Mogherini nannte mehrere Journalisten, Rechtsanwälte, Menschenrechtsaktivisten und Oppositionelle, die ermordet wurden, und forderte Moskau auf, „das Klima des Misstrauens, des Hasses und der Intoleranz zu beenden“.
Der Vorsitzende des Außenpolitischen Ausschusses im Europäischen Parlament, Elmar Brok (CDU), ironisierte: „Zufälligerweise sind solche Morde immer gegen Oppositionspolitiker, zufälligerweise kommen die Täter immer aus dem Kaukasus, zufälligerweise findet man nie die Hintermänner.“ Die lettische Christdemokratin Sandra Kalniete sagte in der Debatte im Europäischen Parlament, Nemzows Ermordung sei „ein deutliches Zeichen des Systems Putin: Sie sind bereit, jedwedes Mittel einzusetzen, um die Diktatur zu schützen.“ Kalniete sprach von einer „Agonie des Systems Putin, die Jahre andauern kann“.
Schärfer als bisher üblich kritisiert das Europäische Parlament nun, „dass sich die Menschenrechtslage in Russland in den vergangenen Jahren verschlechtert hat und die russische Staatsführung eine Reihe von Gesetzen mit mehrdeutigen Bestimmungen erlassen hat, die aktuell dafür eingesetzt werden, die Opposition und die Akteure der Zivilgesellschaft weiter einzuschränken und die freie Meinungsäußerung und die Versammlungsfreiheit zu behindern“. Strafprozesse und Gerichtsverfahren ließen „Zweifel an der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit der Justizorgane“ aufkommen. Insgesamt konstatiert das Europäische Parlament „ein systematisches Versagen des russischen Staates bei der Achtung der Rechtsstaatlichkeit und der Schaffung eines Raums des Rechts für die Bürger Russlands“. Die Ermordung Nemzows sehen die Europaabgeordneten als „bedeutendsten politischen Mord in der jüngeren Geschichte Russlands“.
Sie fordern in einer Entschließung die Durchführung einer unabhängigen und internationalen Untersuchung des Mordes, und zwar – das zeigt das Maß des Misstrauens gegenüber Russland – „im Rahmen der OSZE, des Europarates und der Vereinten Nationen“. Mehr noch: Das Europäische Parlament hält „das politische Klima, für das die russischen Behörden verantwortlich sind“ für den „Nährboden für derartige Morde, Gewaltverbrechen und repressive Maßnahmen (...) angestachelt durch die staatliche Propaganda“. Deshalb fordert Straßburg den Kreml auf, „dem beschämenden Propaganda- und Informationskrieg gegen die Nachbarstaaten Russlands, die westliche Welt und die Bevölkerung des Landes ein Ende zu setzen“. Dadurch werde Russland zu einem „Land von Unterdrückung, Hassreden und Angst“.
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