Raketen auf Tel Aviv und die israelischen Städte hatte man zuletzt im Gazakrieg 2014 gesehen, der sechs Wochen andauerte, bevor ein Waffenstillstand vermittelt werden konnte. Jetzt meldet sich erneut ein schwelender Konflikt zurück, der regelmäßig eskaliert, weil er politisch nie gelöst wurde. Aber dieses Mal ist die Krise gleich an mehreren Fronten eskaliert und ist daher mit vorangegangenen Konflikten und Kriegen kaum zu vergleichen. Hinzu kommt ein dramatisches Machtvakuum auf beiden Seiten: Israel wird nach vier Wahlen in Folge immer noch durch eine geschäftsführende Netanjahu-Regierung repräsentiert, dem der Krieg mit der Hamas gerade recht kommt, denn er zerschmettert die Verhandlungen für eine Anti-Netanjahu-Koalition. Auf der palästinensischen Seite hat eine völlig geschwächte Fatah-Regierung von Präsident Abbas die für den 22.5. angesetzten Wahlen abgesagt – nach 15 Jahren die ersten – aus Angst, sie gegenüber der Hamas oder innerparteilichen Gegnern zu verlieren. Sie hat damit die Wut der palästinensischen Straße und Zivilgesellschaft provoziert, die vom politischen Gegner der Hamas mit dem Beginn des Raketenbeschusses auf Israel prompt ausgenutzt wird.
Jerusalem, der Hotspot des Konflikts
Eskaliert ist die Lage dieses Mal vor allem in Jerusalem, dem Hotspot des Konfliktes, wo wie durch ein Brennglas alle Konfliktlinien aufeinanderprallen, in der Stadt, die beide Konfliktparteien als Hauptstadt beanspruchen. Es begann am Ramadan mit Auseinandersetzungen mit der israelischen Polizei, weil diese das Damaskus-Tor zum ersten Mal abgesperrt hatte – ein wichtiger Platz für die Betenden nach dem Fastentag. Ein weiterer Eskalationspunkt waren bevorstehende Zwangsräumungen von Wohnungen palästinensischer Familien in Ost-Jerusalem, damit jüdische Familien, meist unterstützt von den Siedlerorganisationen, dort einziehen können. Zwar hatte ein Gericht dieses Mal einen Kompromiss verfügt, so dass die palästinensischen Familien bleiben durften.
Dennoch agierte die israelische Polizei ungeschickt, indem sie protestierende radikale jüdische Siedler, unter ihnen auch der neue rechts-nationalistische Knesset Abgeordnete Itamar Ben Gvir, versuchte zu schützen, so dass die Lage in Ost-Jerusalem, vor allem in Sheikh Jarrah, eskalierte. Das war kein Zufall, denn am 10. Mai, dem sog. Jerusalem Tag, „feiern“ radikale jüdische Extremisten jedes Jahr mit provokanten Umzügen durch die arabischen Stadtteile den Tag der Besatzung Jerusalems im Sechs-Tage-Krieg. Schließlich gingen mehrere Tik-Tok-Videos viral, auf denen palästinensische Jugendliche zu sehen waren, wie sie ultraorthodoxe Juden angriffen und bespuckten.
Erst am Ende dieser traurigen Gewaltspirale verkündete die Hamas am 10. Mai ein Ultimatum, mit dem sie von den Israelis verlangte, den Tempelberg/die Al-Aqsa und Sheikh Jarrah zu räumen. Wohl wissend, dass die israelische Seite einem solchen Ultimatum nie folgen würde, begann sie nach Ablauf den Raketenbeschuss auf Jerusalem und sodann auf Tel Aviv. Die Hamas schwingt sich damit zur Anwältin Jerusalems und der protestierenden palästinensischen Jugend auf. Hinzu kommt, dass sich nun auch innerhalb Israels arabische und jüdische Bürger gewalttätig angreifen. Das hat es in den letzten Konflikten nicht gegeben und macht deutlich, dass der Konflikt vollständig explodiert ist.
Auf beiden Seiten fehlt die politische Perspektive
Der Grund dafür ist das völlige Fehlen einer politischen Perspektive auf beiden Seiten. Denn die sogenannte Zwei-Staaten-Lösung, an dem die internationale Staatengemeinschaft nach wie vor festhält, ist für die Akteure auf beiden Seiten schon lange kein Bezugspunkt mehr. Die seit zwölf Jahren regierende Koalition Netanjahus und die ihn stützenden rechtsnationalistischen Parteien haben durch den fortschreitenden Siedlungsbau im Westjordanland und in Ost-Jerusalem immer mehr Fakten „auf dem Boden“ geschaffen, die eine Teilung des Landes oder gar der Stadt Jerusalem zunehmend erschweren. Zuletzt haben sie für ihre weitergehenden Annexionspläne noch Rückenwind durch die Trump-Regierung erhalten.
Die Hamas auf der anderen Seite hat sich noch nie zur Zwei-Staaten-Lösung bekannt und beansprucht wie die rechtsnationalen Siedler „das ganze Land“. Die in Ramallah regierende Fatah ist politisch nur noch ein Schatten ihrer selbst und hat durch die Wahlabsage nun den letzten Rest an Glaubwürdigkeit verloren. Hinzu kommt, dass „die palästinensische Sache“ vor allem für den sunnitischen Teil der arabischen Welt eher zur Last geworden ist. Der eigentliche Feind ist nun der schiitische Iran. Aus Sorge vor dessen Bestrebungen nach der atomaren Bombe, haben einige arabische Staaten, wie die Vereinigten Arabischen Emirate, der Sudan, Bahrein und Marokko gar begonnen, mit dem ursprünglichen Erzfeind Israel sogenannte Normalisierungsabkommen zu vereinbaren – frei nach dem Motto: der Feind meines Feindes ist mein Freund. Aus israelischer Sicht ein historischer Schritt hin zu mehr regionaler Sicherheit. Aber auch den arabischen Ländern sind die Abkommen selbst in der jetzigen Konfrontation offensichtlich wichtiger als die Not der palästinensischen Brüder.
Ein Waffenstillstand muss vermittelt werden
Was also tun? Wer kann in dieser Situation zumindest noch einen Waffenstillstand vermitteln? Und was kommt danach? Allen voran die neue amerikanische Biden-Administration, aber auch Deutschland und die EU, müssen nun versuchen, einen Waffenstillstand zu vermitteln und dann Schritt für Schritt eine politische Perspektive zu entwickeln. Dazu bedarf es aber einer sichtbaren gemeinsamen Kraftanstrengung. Die israelische Seite wird nicht ohne entsprechende Sicherheitsgarantien und die Einstellung des Raketenbeschuss durch die Hamas zu einem Waffenstillstand bereit sein. Die Hamas fordert ihrerseits ein Ende der Zwangsräumungen sowie die Wiederherstellung des Status Quo auf dem Tempelberg/der Al-Aqsa Moschee. Diesen Teil der Vermittlung können nur Ägypten oder Jordanien einnehmen, ggf. unterstützt durch die EU.
Um die Lage nachhaltig zu stabilisieren, brauchen beide Völker wieder eine politische Perspektive. Ob dies allerdings die Zwei-Staaten-Lösung nach den Vorstellungen von Oslo sein wird, ist mehr als fraglich – zu sehr haben sich die Rahmenbedingungen verändert. Eine befriedende Lösung muss die Gefühle und Interessen beider Seiten berücksichtigen. Es muss beachtet werden, dass beide Völker Bezüge zu beiden Seiten haben und inzwischen sehr miteinander verwoben sind. Der Siedlungsbau in Ost-Jerusalem und dem Westjordanland müsste zwar gestoppt werden, dabei aber auch den berechtigten Sicherheitsinteressen der israelischen Seite Rechnung getragen werden. Die EU, die USA, aber auch arabische Staaten sollten gemeinsam schrittweise Perspektiven für eine friedliche Lösung erarbeiten. Wichtig dabei ist, dass endlich auch die Ideen und Vorstellungen der Zivilgesellschaft auf beiden Seiten einbezogen werden. Diese haben sich schon längst auf einen unideologischen und gewaltfreien Weg zu Alternativen zur Zwei-Staaten-Lösung gemacht. Die internationale Gemeinschaft darf sie nicht länger ignorieren.
Die Autorin war von 2002 bis 2005 Staatsministerin im Auswärtigen Amt und leitete von 2013 bis 2018 das Büro der Heinrich-Böll-Stiftung in Tel Aviv. Sie ist Senior Associate Fellow der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik.
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