Suizidassistenz

Moralischer Stress in Österreich

Frauen zählen zu den besonderen Risikogruppen für assistierte Suizide. Palliativmediziner sehen sich durch Wertekonflikte massiv belastet.
Weg für Sterbehilfe in Österreich frei
Foto: Georg Hochmuth (APA) | Ende 2020 kippte der österreichische Verfassungsgerichtshof (VfGH) die Strafbarkeit der Beihilfe zum Selbstmord. Die Ärzte müsse dies nun ausbaden.

Ein Jahr nach der „Liberalisierung“ der Beihilfe zum Suizid hat die Österreichische Palliativgesellschaft (OPG) eine erste Zwischenbilanz gezogen – und die im Vorfeld der Einführung des sogenannten „Sterbeverfügungsgesetzes“ (StVfG) gehegten Befürchtungen scheinen sich zu bestätigen.

Ärzte werden von der Politik allein gelassen

So fühlen sich Ärzte, die laut Gesetz Patienten mit Selbsttötungsabsichten beraten sollen, durch diese Aufgabe belastet und überfordert. In der Praxis zeigt sich zudem, dass ein selbstbestimmter Suizid offenbar ein rechtliches Konstrukt ist. Den Entscheidungen zur Selbsttötung gingen vielmehr existentielle Not, Verzweiflung und schlecht behandelte körperliche Leiden voraus. Dies geht aus einem kürzlich präsentierten Bericht der Österreichischen Palliativgesellschaft (OPG) hervor.

Da es seitens des Gesundheitsministeriums keine wissenschaftliche Begleitforschung zum assistierten Suizid in Österreich gibt, sammelt die Österreichische Palliativgesellschaft (OPG) selbst Daten aus der Praxis. Geschaffen wurde dazu ein Online-Meldesystem mit der Bezeichnung "ACIRS" (ascirs.at) mit der Möglichkeit zur anonymen Eingabe für jene Angehörige, Pflegende oder Psychologen, die andere Menschen rund um den begleiteten Suizid oder dessen Anbahnung miterleben oder betreuen. Die Auswertung dieser Eingaben, wurde kürzlich bei einem Online-Webinar unter dem Titel „Töte sich, wer kann“ präsentiert.

Von den 83 Meldungen, die seit Mai 2022 eingelangt sind, betrafen 59 Anfragen zur Beihilfe zum Suizid. 23 Suizide mit tödlichem Gift wurden vollendet, einer wurde abgebrochen. Der überwiegende Anteil fand im privaten Rahmen – wie vom Gesetzgeber vorgesehen – statt, drei Fälle in Pflegeheimen und einer im Hospiz. Bislang wurde kein Fall aus einem Krankenhaus berichtet.

Frauenanteil auffallend hoch

Die Patienten waren im Alter zwischen 43 und 97 Jahre, von denen die meisten eine Tumorerkrankung hatten, gefolgt von neurologischen Erkrankungen. Auffallend hoch war mit 67 Prozent (56 Anfragen) der Anteil der Frauen, die einen assistierte Suizid in Erwägung zogen. Dies deckt sich mit internationalen Studien, wonach Frauen zu den besonderen Risikogruppen für assistierte Suizide zählen. Sie überleben häufiger ihre Partner, leben länger alleine und leiden unter Einsamkeit oder der Sorge, anderen zur Last zur fallen. Außerdem sind Frauen häufiger von Altersarmut und Depression betroffen.

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Als bei weitem häufigster Grund für eine Anfrage für eine Beihilfe zur Selbsttötung wird das erlebte oder zukünftig befürchtete Leiden in Form eines existentiellen Leidens genannt. Als zweithäufigsten Grund gaben fast die Hälfte der Betroffenen für ihren Wunsch nach assistiertem Suizid belastende körperliche Krankheitssymptome an. Die Angst vor einem Autonomieverlust wurde sechs Mal genannt.

In fast 60 Prozent (33 Fälle) entschieden sich die Patienten nach einer umfassenden Beratung über Palliative-Care-Optionen gegen die Errichtung einer Sterbeverfügung. Bei den 23 assistieren Suiziden waren in 75 Prozent der Fälle unerträgliche körperliche Symptome ein wesentlicher Faktor für die Entscheidung zur Selbsttötung. Die Hälfte aller Anfragen zum assistierten Suizid erfolgte aufgrund von unzureichend behandelten Symptomen im Kontext einer schweren Erkrankung.

Die Angst vor Leiden im Alter überwiegt

Bestärkt fühlt sich die OPG von diesem Ergebnis insbesondere in ihrer Ansicht, die Möglichkeit des assistierten Suizids sei überflüssig. Denn die moderne Palliativmedizin habe die Mittel, die als Motiv genannten Leiden deutlich zu lindern. "Erschreckend" findet Palliativmediziner Dietmar Weixler, dass körperliche Beschwerden eine derart große Rolle spielten: „Es lässt sich heutzutage beinahe garantieren, einen körperlichen Schmerz zu kontrollieren.“

„Wir wissen, dass den Ängsten, den körperlichen Symptomen und dem erlebten Leid durch eine umfassende palliativmedizinische Betreuung wirksam begegnet werden kann“, betont auch Angelika Feichtner, Pflegewissenschaftlerin und Mitglied der ARGE Ethik der OPG. Allerdings hätten bei weitem nicht alle Patienten, die eine palliativmedizinische Betreuung bräuchten, auch Zugang dazu, kritisiert Feichtner.

Ein Jahr nach Einführung des Sterbeverfügungsgesetzes in Österreich sehen sich Palliativmediziner durch Wertekonflikte belastet. Aus psychologischer Sicht zeigen sich die hohe Belastung und große Unsicherheit von Ärzten und Pflegenden, aber auch Apothekern, die das tödliche Präparat aushändigen sollen, wie die ASCIRS-Anfragen zeigen. OPG-Präsident Dietmar Weixler hält die Rollenzuschreibung als „Aufklärende zum Assistierten Suizid im Zuge des StVfG“ seitens des Gesetzgebers für eine „Zumutung“ und fordert unmissverständlich eine entsprechende Gesetzesänderung. „Wir werden von einem Anliegen erdrückt, für das wir uns in unserem Selbstverständnis gar nicht zuständig fühlen“, so Weixler.
Und Weixler ergänzt: Gerade Professionisten im Bereich Palliative Care hätten diesen Beruf gewählt, weil sie Menschen palliativ begleiten möchten und nicht, um Anfragen zur Selbsttötung zu bearbeiten. So berichteten mehrere Palliativ-Care-Teams, dass sie die reguläre Betreuung und Qualität der Betreuung ihrer Patientinnen nicht mehr aufrechterhalten können, weil sie sehr viel Zeit für Anfragen rund um den assistierten Suizid aufwenden müssen. Das führe zu hohem psychologischen und moralischen Stress.

111 Sterbeverfügungen errichtet

Mit Stand Dezember 2022 wurden in Österreich laut Angaben des Sozial- und Gesundheitsministeriums insgesamt 111 Sterbeverfügungen errichtet. 90 tödliche Präparate seien abgegeben worden. Die Anzahl der zum Einsatz gekommenen Präparate befinde sich aber „im einstelligen Bereich“, ebenso die Anzahl der nach einem Jahr retournierten Präparate, so die Auskunft des Ministeriums.

Dies steht in auffallender Diskrepanz zu den bei der OPG eingelangten Berichten von 23 vollendeten assistierten Suiziden. Laut OPG-Präsident Weixler ginge dies offenbar auf das Problem der „notorisch schlampigen Totenbeschau im privaten Bereich“ zurück. Er hält die OPG-Daten für „glaubwürdiger“.

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Susanne Kummer Frauenanteile Hospize Suizidhilfe

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