Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Abtreibungsstrafrecht vom 28. Mai 1993 ist ein Urteil voller Widersprüche. Das Gericht sollte prüfen, ob die Reform der Paragraphen 218ff. StGB von 1992, nach denen Abtreibungen unter den in 218a genannten Bedingungen nach Beratung "nicht rechtswidrig" sein sollten, mit dem Grundgesetz vereinbar ist, und ob die in § 219 StGB normierte Schwangerschaftskonfliktberatung den verfassungsrechtlichen Anforderungen nach Art. 1, Abs. 1 (Menschenwürde) und Art. 2, Abs. 2 (Recht auf Leben) GG genügt.
Schwangerschaftsabbruch ist rechtswidrig
Es verneinte beides und gab doch grünes Licht für die Legalisierung der Abtreibung nach Beratung. Karin Graßhof, Richterin des 2. Senats, der das Urteil fällte, hat die Widersprüche bei einem Symposion des Kölner Lindenthal-Instituts am 3. Juli 1993 nicht geleugnet. Sie wollte mit der guten Tradition ihres Senats brechen, "eigene Urteile nicht in der Öffentlichkeit zu erläutern", und sich bemühen, "die juristische Spagatübung zwischen Rechtmäßigkeit und Rechtswidrigkeit" des Schwangerschaftsabbruchs verständlich zu machen. Dies ist ihr nicht gelungen. Doch bevor der Frage nachgegangen wird, warum ihr das nicht gelungen ist und auch keinem anderen Richter gelingen kann und die weitere Frage erörtert wird, welche Folgen das Urteil hatte, sind einige der Widersprüche des Urteils festzuhalten.
Das Urteil unterstreicht das Lebensrecht des ungeborenen Kindes, das sich im Mutterleib nicht erst zum Menschen, sondern als Mensch entwickelt und bezeichnet dementsprechend den Schwangerschaftsabbruch für die gesamte Dauer der Schwangerschaft als rechtswidrige Straftat, verpflichtet aber zugleich den Staat, ein ausreichendes Angebot wohnortnaher Einrichtungen zum Schwangerschaftsabbruch sicherzustellen. Das Urteil verbietet die Krankenkassenfinanzierung der Abtreibung, verpflichtet aber zugleich die Sozialhilfeträger zu eben dieser Finanzierung und die Arbeitgeber zur Lohnfortzahlung für Schwangere, die wegen einer Abtreibung fehlen.
Das Urteil kritisiert die "Kind als Schaden"-Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs, weil eine rechtliche Qualifikation des Daseins eines Kindes als Schadensquelle nicht in Betracht komme, konzediert aber zugleich der Mutter eine "Opfergrenze", die eine Schwangerschaft "unzumutbar" werden lasse, mit der Konsequenz, dass sie berechtigt sei, das Kind töten zu lassen. Das Urteil stellt fest, dass sich die Schwangere für die mit der Abtreibung einhergehende Tötung des Ungeborenen nicht auf die Gewissensfreiheit nach Art. 4, Abs. 1 GG berufen könne, hält aber zugleich eine Kollision des Lebensrechts des Embryos mit ihrem Persönlichkeitsrecht nach Art. 2, Abs. 1 GG, also mit ihrem Selbstbestimmungsrecht, für möglich.
"Die auferlegte Korrektur und Nachbesserungspflicht
wird vom Gesetzgeber hartnäckig ignoriert."
Vorgaben für den Lebensschutz
Schließlich verwirft das Urteil die Absicht des Gesetzgebers, auf die Abtreibungsstatistik zu verzichten. Der Staat sei auf eine zuverlässige Statistik angewiesen, wenn er die Effektivität seiner Maßnahmen zum Schutz des ungeborenen Lebens überprüfen wolle. Stelle er nach einer angemessenen Beobachtungszeit fest, dass das von der Verfassung geforderte Maß an Schutz nicht gewährleistet ist, so habe er eine "Korrektur- oder Nachbesserungspflicht". 30 Jahre sind gewiss eine "angemessene Beobachtungszeit". Seit der Einführung der Abtreibungsstatistik 1976 sind in Deutschland bis heute allein nach den Angaben des Statistischen Bundesamtes 6,5 Millionen Kinder vor der Geburt getötet worden. Hinzu kommt eine erhebliche Dunkelziffer, die nach plausiblen Schätzungen die gleiche Zahl erreicht. Die vom Urteil auferlegte Korrektur- und Nachbesserungspflicht wird vom Gesetzgeber jedoch hartnäckig ignoriert.
Ebenso ignoriert werden die Vorgaben des Urteils für Ziel, Inhalt und Durchführung der Schwangerschaftskonfliktberatung: Die Beratung bedürfe "der Zielorientierung auf den Schutz des ungeborenen Lebens hin. Eine bloß informierende Beratung ... verfehle ihren Auftrag". Sie müsse der Schwangeren die sozialen und finanziellen Hilfen für das Kind vorstellen und sie bei deren Inanspruchnahme unterstützen. Sie habe zu klären, inwieweit der Vater des Kindes oder das familiäre oder soziale Umfeld in die Beratung einbezogen werden kann. Ein Beratungsschein müsse nicht schon nach dem ersten Beratungsgespräch ausgestellt werden. Die Beratung dürfe nur solchen Einrichtungen anvertraut werden, "die nach ihrer Organisation, nach ihrer Grundeinstellung zum Schutz des ungeborenen Lebens ... sowie durch das bei ihnen tätige Personal die Gewähr dafür bieten, dass die Beratung im Sinne der verfassungsrechtlichen und gesetzlichen Vorgaben erfolgt". Schließlich müsse der Staat die Anerkennung der Beratungsstellen "regelmäßig und in nicht zu langen Zeitabständen überprüfen und sich dabei vergewissern, ob die Anforderungen an die Beratung beachtet werden".
Alle positiven und den Lebensschutz stärkenden Aspekte des Urteils werden schließlich relativiert, ja konterkariert durch die verfassungsrechtliche Billigung eines Beratungskonzepts, das der Schwangeren die Entscheidung über Leben und Tod in den ersten drei Monaten einer Schwangerschaft anheimstellt: Das Beratungskonzept sei, so das Gericht, "darauf angelegt, das Verantwortungsbewusstsein der Frau zu stärken, die ... letztlich den Abbruch der Schwangerschaft tatsächlich bestimmt und insofern verantworten muss (Letztverantwortung)". Mit dem Paradigmenwechsel vom strafrechtlichen Schutz zum "Schutz" durch Beratung wollte das Bundesverfassungsgericht das Lebensrecht des ungeborenen Kindes und das Selbstbestimmungsrecht der Schwangeren zu einem Ausgleich bringen.
"Das Urteil hat der Privatisierung und damit
der Freigabe der Abtreibung den Weg geebnet."
Quasi eine Freigabe
Das Ergebnis des Urteils und der daraufhin erfolgenden Neuregelung des Abtreibungsstrafrechts von 1995 war jedoch kein Ausgleich von zwei Menschenrechten und schon gar nicht die vor der Reform angestrebte Verbesserung des Schutzes ungeborener Kinder, sondern die Freigabe der Abtreibung innerhalb der ersten drei Monate einer Schwangerschaft. Die Schwangere ist zwar verpflichtet, die Beratungspflicht des § 218a StGB zu respektieren, nicht aber das Lebensrecht des Embryos. Da sie sich nach den Regelungen des Schwangerschaftskonfliktgesetzes und einem weiteren Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Bayerischen Schwangerenhilfeergänzungsgesetz vom 27. Oktober 1998 auf eine Beratung gar nicht einlassen muss, weil sie ein "Recht" auf den Beratungsschein hat, auch wenn sie die Gründe nicht nennt, derentwegen sie eine Abtreibung plant, kommen die Regelungen des Abtreibungsstrafrechts in Deutschland faktisch einem Recht auf Abtreibung gleich.
Das Urteil hat der Privatisierung und damit der Freigabe der Abtreibung den Weg geebnet. In der Neuregelung des Abtreibungsstrafrechts 1995 erdrückt das Selbstbestimmungsrecht der Schwangeren das Lebensrecht des Embryos. Das Beratungskonzept bedeutet die Kapitulation des Rechtsstaates, zu dessen konstituierenden Merkmalen das Gewaltverbot für Privatpersonen gehört. Die Spagatübung zwischen Rechtmäßigkeit und Rechtswidrigkeit der Abtreibung ist misslungen. Sie kann nur misslingen, weil der Rechtsstaat, der versucht, die Aufhebung seiner Konstitutionsbedingung rechtlich zu regeln, sich selbst zerstört. In den Paragraphen 218ff. StGB einen "ausgewogenen Kompromiss zwischen Lebensschutz und Selbstbestimmung" zu sehen, wie die CSU in dem Grundsatzprogramm, das sie bei ihrem Parteitag am 6. Mai 2023 verabschiedet hat, ist ein Irrtum.
Die Reaktionen auf das Urteil in der Öffentlichkeit waren im ersten Moment so widersprüchlich wie das Urteil selbst. Während die Befürworter einer Fristenregelung das Urteil als "Skandal" (Gerhard Schröder, SPD) bezeichneten, äußerten sich Vertreter der katholischen Kirche geradezu euphorisch. Der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, Bischof Karl Lehmann, sprach von einer "historischen und wegweisenden Entscheidung", deren wahrer Gewinner der Mensch sei. Die Präsidentin des Zentralkomitees der deutschen Katholiken, Rita Waschbüsch, sah vor allem die Beratungsarbeit der katholischen Kirche bestätigt, die sie denn auch glaubte, im staatlichen Beratungssystem fortsetzen zu können. Diese Illusionen hatten fatale Folgen.
Die Crux der Mitwirkung
Die Mehrheit der deutschen Bischöfe und des Zentralkomitees der deutschen Katholiken beharrte nach der Neuregelung des Abtreibungsstrafrechts 1995 auf einer Mitwirkung der kirchlichen Beratungsstellen im nachweispflichtigen Beratungssystem. Sie verteidigten nicht mehr die kirchliche Lehre zum Thema Mitwirkung an einer unerlaubten Tat gegenüber dem deutschen Gesetzgeber, sondern die deutsche Beratungsregelung gegenüber Rom. Dies führte zu einem heftigen Konflikt mit Joseph Kardinal Ratzinger und Papst Johannes Paul II., der sich vier quälend lange Jahre hinzog, bis Papst Johannes Paul II. die deutschen Bischöfe im Oktober 1999 anwies, auf die Ausstellung des Beratungsscheines zu verzichten, weil er in unentwirrbarer Weise das Ja und das Nein zum ungeborenen Kind verknote und den Lebensschutz durch die Beratung über den Nachweis der Beratung zugleich zum Mittel der Verfügung über menschliches Leben mache. Dies verdunkle das Zeugnis der Kirche zum Schutz des menschlichen Lebens und sei mit ihrem Auftrag nicht vereinbar.
Donum Mortis
Die Bischöfe fügten sich widerwillig und unterstützten nicht selten den Verein "Donum Vitae", der von Mitgliedern des Zentralkomitees der deutschen Katholiken schon im September 1999 in Erwartung der päpstlichen Anweisung gegründet worden war, um weiterhin den Beratungsschein auszustellen. Allein der Bischof von Fulda Johannes Dyba hatte die Fallen des Urteils erkannt und untersagte den Beratungsstellen seines Bistums schon im September 1993 die Ausstellung des Beratungsscheins, weil die Beratungsregelung durch das Bundesverfassungsgericht per Vollstreckungsanordnung schon am 15. Juli 1993 in Kraft gesetzt worden war.
Er scheute sich auch nicht, den Verein "Donum Vitae" Donum Mortis zu nennen, weil der Beratungsschein einer staatlichen Tötungslizenz gleichkomme. Der Konflikt zwischen der katholischen Kirche in Deutschland und Rom lähmte die Kirche in Deutschland in ihrem Einsatz für den Schutz des menschlichen Lebens. Die Wunden, die er geschlagen hat, sind so lange nicht verheilt, wie "Donum Vitae" fortfährt, den Beratungsschein auszustellen. Dass eine Schwangerschaftskonfliktberatung auch ohne Ausstellung des tödlichen Scheins erfolgreich sein kann, zeigen zahlreiche Initiativen katholischer und evangelischer Laien und auch kirchliche Beratungsstellen.
Der Autor ist em. Professor für Christliche Sozialwissenschaften und Autor des Buches "Kirche und Abtreibung in Deutschland Ursachen und Verlauf eines Konflikts"
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