Politik

„Macht weiter so“

Staat und Gesellschaft dürfen junge Mütter und Väter nicht allein lassen. So war der „Marsch für das Leben“ 2018. Von Stefan Rehder
Demonstrationen für und gegen das Recht auf Abtreibung
Foto: dpa | Teilnehmer am diesjährigen "Marsch für das Leben" passieren mit einem Holzkreuz den Berliner Hauptbahnhof.

Berlin, Samstag, 22. September, 12.15 Uhr: Auf dem Platz der Republik vor dem Reichstagsgebäude errichten Arbeiter ein riesiges Festzelt und einen gigantischen Pavillon für die Feierlichkeiten zum Tag der Deutschen Einheit. Auf dem Platz dazwischen, von dem aus Lebensrechtler aus ganz Deutschland in den vergangenen Jahren ihren stets am 3. Samstag im September stattfindenden „Marsch für das Leben“ starteten, lagern Stahlträger und Aluminiumbleche. Wo sonst die Bühne für die Kundgebung steht, warten jetzt Baumaschinen auf ihren Einsatz. Vorbei am Paul-Löbe-Haus und dem Kanzleramt ziehen Lebensrechtler durch den Spreebogenpark Richtung Hauptbahnhof. Ihr Ziel: der Washingtonplatz davor. An der Ampel stehen zwei Jugendliche. Sie tragen Kapuzenpullover und – obwohl die Sonne gar nicht scheint, Sonnenbrillen, den Standard-Look vieler, wenn auch keineswegs aller Gegendemonstranten. Ihr Ziel: Der Bürgersteig vor dem Haupteingang des Bahnhofs. Eine halbe Stunde vor Beginn der Kundgebung haben sich hier erst ein paar Dutzend eingefunden. Später werden es Hunderte sein. Auch auf dem Washingtonplatz selbst haben sich erst einige hundert Lebensrechtler eingefunden. Später werden es, so die Schätzung der Polizei, rund 5 000 sein. Der einladende Bundesverband Lebensrecht (BVL), der auch diesmal Zähler an den Zugängen postiert hat, spricht von 5 500 Teilnehmern.

„Meine Damen und Herren, sie haben sich heute alle aufgemacht hier nach Berlin. Dafür danken wir ihnen sehr. Sie wollen heute ein Zeichen setzen. Das ist gerade in diesem Jahr sehr wichtig. Denn wir sind die größte Demonstration in Deutschland – pro life. Wir sind überkonfessionell, überparteilich, wir sind international und wir sind generationenübergreifend“, begrüßt die BVL-Vorsitzende Alexandra Linder kurz nach 13 Uhr die Teilnehmer. Ex-Bundestagsvizepräsident Johannes Singhammer (CSU), im Programm als Redner angekündigt, hat kurzfristig abgesagt. Das Grußwort des Katholiken, der bei der Bundestagswahl 2017 nicht mehr kandierte, verliest die frühere Vorsitzende der Jugend für das Leben, Angelika Doose: „Wir alle sind zusammengekommen, um für das Leben zu werben. Wir werben, wir hoffen und wir bitten, dass alle noch nicht Geborenen das Licht der Welt erblicken können. Diese große Bürgerinitiative, welche sich heute hier in Berlin versammelt hat, richtet sich nicht gegen irgendjemanden. Vor allem nicht gegen Mütter und Frauen in existenziellen Notlagen, sondern engagiert sich, setzt sich ein für Kinder, für Mütter, für Väter, für Frauen, für Männer“, schreibt Singhammer.

Deutschland sei ein reiches Land. „Erneut werden in diesem Jahr viele Milliarden Steuergelder mehr eingenommen als ausgegeben. Wer kann da noch guten Gewissens verstehen, wenn in diesem Jahr des erneuten finanziellen Überflusses viele zehntausende Schwangerschaften abgebrochen, beendet, Kinder nicht geboren werden, mit einer Begründung: soziale Notlage, finanzielle Engpässe?“, fragt der Vater von sechs Kindern. Wenn in Deutschland finanzieller Überfluss herrsche, dürfe nicht an Müttern, Vätern, bei Familien, die ein Kind erwarten und in finanzieller Notlage seien, gespart werden. Deswegen sei es, so der Jurist, „ein falscher Weg, den Paragrafen 219a im Strafgesetzbuch abzuschaffen“. Zu Recht mache sich nach geltendem Recht „strafbar, wer Dienste zur Vornahme eines Schwangerschaftsabbruchs anbietet, ankündigt oder anpreist. Da geht es nicht um sachliche Information, sondern um Werbung. Deutschland braucht keine Werbung für Abtreibungen. Sondern Deutschland braucht Werbung für das Leben“, rezitiert Doose Singhammer, der auch noch auf den sogenannten Praenatest zu sprechen kommt: „Alle Menschen sind gleich viel wert. Eine gefährliche Entwicklung würde eingeleitet, wenn künftig eine allgemeine Kostenübernahme durch die Krankenversicherung erfolgt, damit so gut wie alle Frauen in der Schwangerschaft ihr Blut auf das Down-Syndrom untersuchen lassen.“ Derzeit prüft der Gemeinsame Bundesausschuss, ob der Test, der bislang eine „individuelle Gesundheitsleistung“ (IGEL) darstellt und von den Paaren selbst zu zahlen ist, in den Leistungskatalog der Gesetzlichen Krankenkassen aufgenommen werden soll.

Ein „verhängnisvoller Weg“, wie Singhammer meint. „Erstens: Schon heute steht fest, dass eine erhebliche Zahl der Testergebnisse falsch sind. Frauen mit positivem Testergebnis erwarteten tatsächlich gar kein Kind mit Down-Syndrom. Zweitens: Eine Defacto-Reihenuntersuchung auf das Down-Syndrom widerspricht der UN-Behindertenkonvention. Drittens: Dadurch würde ein verhängnisvolles Signal an Menschen ausgehen, die mit Down-Syndrom leben.“ Der CSU-Politiker erinnert an die bewegende Rede des Schauspielers Sebastian Urbanski, mit der er – selbst Träger des Down-Syndroms – im vergangenen Jahr im Deutschen Bundestag der Opfer der Naziverbrechen gedachte. „Es ist normal verschieden zu sein. Deshalb lasst uns alles vermeiden, was Menschen ausgrenzt, sowohl nach der Geburt als auch vor der Geburt.“

Währenddessen Doose Singhammers Rede verliest, starten die Gegendemonstranten ein Pfeifkonzert an diesem Tag. Dazu skandieren sie: „Mittelalter, Mittelalter“ und wie in den Jahren zuvor: „Hätt' Maria abgetrieben, wär't ihr uns erspart geblieben“ oder auch: „Kein Gott, kein Staat, kein Patriarchat.“ Auf der Bühne berichtet derweil Sandra Sinder aus ihrer Praxis: Seit zwölf Jahren berät sie Frauen in Schwangerschaftskonflikten. „50 Prozent der Frauen aus meiner Beratungspraxis haben bereits einen Schein. Mit dem hätten sie die Abtreibung längst vornehmen können. Wenn sie zu mir kommen, sind sie verängstigt und fühlen sich allein. Offensichtlich haben sie nicht bekommen, was sie brauchen. Eine Abtreibung war es jedenfalls nicht.“ „Frauen im Schwangerschaftskonflikt“, weiß Sinder, die bereits mehr als 500 von ihnen begleitete, „brauchen Ermutigung, Wertschätzung, Nähe, Schutz. Sie wollen gesehen und gehört werden mit ihrer Not. Und sie brauchen die Gemeinschaft und langfristige Zusammenarbeit.“ Was sie nach so vielen Jahren in der Beratung wundere, sei, dass Abtreibung immer noch als „Freiheitsrecht von Frauen“ propagiert werde. „Frauen im Schwangerschaftskonflikt sind nicht frei. Sie haben Angst. Angst ist das Gegenteil von Freiheit. Es geht darum, sich um diese Angst zu kümmern und somit frei zu werden. Und ich habe noch keine Frau erlebt, die, nachdem sie es geschafft hat, ihre Angst zu besiegen, sich für eine Abtreibung entschieden hat“, sagt Sinder. Auf dem Platz zünden Gegendemonstranten, die sich unter die Teilnehmer gemogelt haben, eine Rauchbombe. Polizisten in Zivil führen vier Männer ab.

Gegen 14 Uhr setzt sich der Marsch, angeführt Linder, der Bundesvorsitzenden der Christdemokraten für das Leben, Mechthild Löhr, und dem Generalsekretär der Evangelischen Allianz, Hartmut Steeb, in Bewegung. Vorne mit dabei sind auch die Stellvertretenden Vorsitzenden der Aktion Lebensrecht für Alle, Cornelia Kaminski und Holm Schneider, sowie der Vorsitzende der Ärzte für das Leben, Paul Cullen. Auch der ehemalige BVL-Vorsitzende Martin Lohmann und die Publizistin Birgit Kelle haben sich an der Spitze des Zuges eingefunden. Unter den Teilnehmern sind auch Berlins Erzbischof Heiner Koch und der Regensburger Bischof Rudolf Voderholzer, der, begleitet von zahlreichen Gläubigen aus seiner Diözese, bereits zum dritten Mal in Folge am Marsch teilnimmt. Spitzenpolitiker der AfD sieht man hingegen nicht. In einem gemeinsamen Grußwort hatten zuvor der Landesbischof der Evangelischen Landeskirche in Württemberg, Frank Otfried July, und der Landesbischof der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Sachsens, Carsten Renzing, die Lebensrechtler gemahnt: „Halten wir Abstand zu jenen Bewegungen, die unser Engagement für das Leben ausnutzen oder benutzen wollen für ihre populistische Agenda.“ 2015 war das nicht gelungen. Damals ging die Berliner AfD-Landesvorsitzende, Beatrix von Storch, in der ersten Reihe mit. Für einige Medien Grund genug, um den Marsch sogleich als „AfD-Veranstaltung“ zu brandmarken.

Der Marsch umrundet den Bahnhof und zieht über die Invalidenstraße durch die Hannoversche Straße. Rund hundert Meter vor der Katholischen Akademie stürzen plötzlich einige Dutzend Gegendemonstranten von allen Seiten auf die Straße und versuchen, eine Sitzblockade zu errichten. Doch weil sie dafür zu wenige sind, bleiben die Bürgersteige frei. Herbeieilende Polizisten sorgen dafür, dass das auch so bleibt. „Wir dürfen uns nicht provozieren lassen“, hatte Linder den Teilnehmern mit auf den Weg gegeben. Und so gehen die Lebensrechtler schweigend links und rechts um die in drei Reihen hintereinander auf der Straße Sitzenden herum. Auf der Oranienburgerstraße vor dem Monbijou Park filmt Mohammed den Marsch mit seinem Handy. Den Vorbeiziehenden reckt der 47-Jährige seinen rechten Daumen entgegen und ruft: „Ich bin auch gegen Abtreibung“. „Ich denke, jeder hat das Recht auf Leben“, begründet der Marokkaner, der sich als „gläubiger Muslim“ bezeichnet, in perfektem Deutsch auf Nachfrage seinen Standpunkt. Fünf Meter weiter beschimpft ein Gegendemonstrant die Marschteilnehmer als „Gebärmaschinen“. Mit einem weiteren hält er ein Transparent in Händen, auf dem steht „Der Kampf geht weiter – RAF Berlin“.

Über die Friedrichsbrücke vorbei am Berliner Dom auf die andere Seite der Museumsinsel. Über die Weidendammer Brücke in den Schiffbauerdamm ein. Eine der wenigen Stellen, an denen die vorangehenden Polizisten – offenbar zur Abschreckung – Helme aufziehen. Schon nach wenigen Metern setzen sie diese wieder ab. Die Mehrzahl der Marschgegner, die hier erwartet wurde, hat das Demonstrieren aufgegeben und es sich vor „Murphy's Irish Pub“ gemütlich gemacht. Vor der „Rheinischen Vertretung“ stehend, schaut Alt-Bundespräsident Horst Köhler den Vorbeiziehenden zu: Auf ihren Schildern kann er lesen: „Töten ist keine ärztliche Kunst“, „Keine Werbung für noch mehr Abtreibungen“, „Nie wieder unwertes Leben“ oder auch „Echte Männer stehen zu ihrem Kind“. Köhler nickt zustimmend und wechselt mit Lebensrechtlern, die ihn erkannt haben, einige Worte. Über die Luisen- und die Reinhardstraße schwenkt der Marsch auf das Kapelle-Ufer ein, dem Washingtonplatz zu. Dort teilen Helfer Brezeln und Wasser an die Rückkehrer aus. Die bundesweit bekannte Band „Koenige & Priester“, um die bekennenden Christen Florence Joy, ihrem Mann Thomas Enns und dessen Bruder Jonathan, die derzeit durch Deutschland touren und die schon bei der Kundgebung mit Songs wie „Alles möglich“, „Nimm mich mit“, „Über alles“ und „Weil es Liebe ist“ für Stimmung sorgten, spielt „Du bist“.

Auch beim Ökumenischen Abschlussgottesdienst, den Berlins Weihbischof Matthias Heinrich, ein regelmäßiger Gast beim Marsch, gemeinsam mit Hans-Jürgen Abromeit, Bischof im Sprengel Mecklenburg und Pommern der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Norddeutschland, feiert, spielt die Band. In einer, von vielen anschließend hoch gelobten Predigt legt Abromeit die Aufforderung des Apostels Paulus, „einer trage des anderen Last“ (Gal, 6,2), aus. „Es wäre schon viel gewonnen, wenn Männer anfingen, die Lasten der Frauen mitzutragen. Wenn die Eltern der Eltern die Last ihrer Kinder oder auch ihrer Enkel zu ihrer eigenen Last machen würden, fände manche junge Frau den Mut, ihr Kind zu behalten.“ Auch Staat und Gesellschaft dürften junge Mütter und Väter nicht allein lassen. Wenn die „hohe Zahl“ der Abtreibungen kleiner werden solle, müssten alle ihre Verantwortung „viel intensiver“ wahrnehmen. Er verstehe, dass sich „viele Frauen allein gelassen fühlen in einer Situation, in die sie nicht allein gekommen sind.“ „Was ich aber nicht verstehe“, so Abromeit, „ist, dass junge Frauen jubeln und grölen, wie nach dem Gewinn einer Fußballweltmeisterschaft, wenn der gesetzliche Schutz des ungeborenen Lebens wegfällt, wie wir es im Mai in Irland erlebt haben.“ Für sie sei es ein „großes Anliegen“, hier zu sein, sagt Marion. Die 21-Jährige ist aus Stuttgart an gereist. Das Leben von Menschen müsse vom „Zeitpunkt der Verschmelzung von Ei- und Samenzelle an geschützt werden“. Grenzwertig sei das allenfalls bei einer Vergewaltigung. Im Prinzip müsse jedes Leben „als lebenswert“ erkannt werden. „Frauen in Notsituationen“ benötigten „Hilfe“ und Menschen, „die ihnen Mut machen, das Kind zu bekommen“.Wie die junge Frau denken viele hier. Sie dürfen sich von Heinrich ermutigt fühlen. Nachdem der Weihbischof den Schlusssegen gespendet hat, sagt er: „Macht weiter so!“

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