Am Nikolaustag hauen sie in den Sack: Zum 6. Dezember wird die Linksfraktion im Bundestag aufgelöst. Aber das ist freilich erst einmal ein rein formaler Akt. Denn wie es mit der Linkspartei und ihrer Repräsentanz im Bundestag konkret weitergeht, wird erst danach entschieden. „Gruppe“ – so lautet dann der offizielle Status. Übrigens auch für diejenigen ehemaligen Linksparteiler, deren Überlaufen zum „Bündnis Sahra Wagenknecht“ das Todesglöcklein für die Fraktion läuten ließ.
Welche Rechte aber beiden Gruppen jeweils zugestanden werden, das liegt in den Händen des Ältestenrates des Parlamentes. „Es ist zu vermuten, dass es am Ende für den Steuerzahler teurer wird“, prognostiziert Hubertus Knabe gegenüber dieser Zeitung. Der Historiker, der seit vielen Jahren die Linkspartei ganz genau im Blick hat, geht davon aus, dass nämlich beiden neuen Gruppen weitgehende Rechte zugesprochen werden, von der Vertretung in den Ausschüssen, mit Blick auf das Rederecht bis hin zu den Zahlen für Mitarbeiterstellen. Auch rechnet er nicht damit, dass Petra Pau, die als Vertreterin der Fraktion zur Bundestagsvizepräsidentin gewählt worden ist, ihr Amt aufgeben wird. Sollte es tatsächlich dabei bleiben, bestünde die zumindest aus parlamentarischer Traditionsperspektive seltsame Situation, dass eine Gruppe im Bundestagspräsidium vertreten ist, während eine Oppositionsfraktion, die AfD nämlich, dort keinen Platz hat.
Wie geht es programmatisch weiter?
Neben solchen organisatorischen Punkten stellt sich aber vor allem die Frage: Wie geht es programmatisch weiter? Wie versteht die Linkspartei ihr Links-Sein künftig? Und was ist der ideologische Erbteil aus der alten Partei, den Sahra Wagenknecht und die anderen Genossen in ihr neues Bündnis mitnehmen? Knabe ist der Auffassung, dass die Bedeutung der „DDR-Nostalgie“ für die Linkspartei künftig eine geringere Rolle spielen wird. Das sei auch schon in der Vergangenheit so gewesen und habe letztlich vor allem biologische Gründe. Funktionäre aus der alten DDR sterben zunehmend.
Auch der Einfluss der „DDR-Nostalgiker“ wie Gregor Gysi oder Dietmar Bartsch, die gleichzeitig aber auch inhaltlich die Pragmatiker gewesen seien, werde abnehmen, wenn sie 2025 aus dem Bundestag ausschieden. Stattdessen ist schon seit längerer Zeit festzustellen, dass Positionen eine stärkere Rolle spielen, die auf die Rechte von sexuellen Minderheiten abzielen, identitätspolitische Aspekte betonen, Cancel Culture propagieren, kurz sich auf „woke“ Themen konzentrieren. Diese Entwicklung war ja auch entscheidender Faktor bei der Entfremdung Wagenknechts von ihrer alten politischen Heimat und hat ihren Ablösungsprozess mit in Gang gesetzt. Marxistische Orientierungen werden dadurch aber nicht ab-, sondern eher noch zunehmen. „Marx bleibt für die Linke eine Kultfigur“, ist Knabe überzeugt. Er geht davon aus, dass sich diese Grundorientierung künftig noch mehr mit den woken Themen mischen werde. „In der Partei gibt es eine Menge überzeugter Marxisten – oder Sozialisten, wie sie sich selber nennen. Das zeigte sich zum Beispiel bei der Initiative zur Enteignung großer Immobilienunternehmen in Berlin.“
Linkspartei konzentriert sich auf Großstädte
Die Linkspartei werde mit ihren linksalternativen Themen in den Flächenstaaten weiter Stimmen verlieren. Übrig bleiben am Ende die Großstädte, so die Prognose von Knabe. Das habe auch Folgen für Ostdeutschland. „In Leipzig beispielsweise wird die Linke sicher noch länger eine Rolle spielen.“ Aber in Sachsen und Brandenburg würden ihr die Felle davon schwimmen. Falls sich die neue Wagenknecht-Partei in den nächsten Monaten stabilisieren sollte, geht er davon aus, dass viele, die früher bei der Linken ihr Kreuz gemacht haben, bei den Landtagswahlen im kommenden Jahr für die neue Partei stimmen werden – oder gleich für die AfD.
Und was ist von dem Wagenknecht-Bündnis zu erwarten? Werden sich ideologische Linien aus der Linkspartei hier fortsetzen. Man vermeide zwar Bezüge auf die DDR, aber im Grunde gelte: „Alter Wein in neuen Schläuchen“, meint Knabe. Wagenknecht sei eine viel radikalere Marxistin als die Pragmatiker aus der Linkspartei um Gysi, Bartsch & Co. Sie habe zum Beispiel staatliche festgelegte Preise verlangt – was in der DDR fatale Folgen gehabt habe. Dazu komme hier noch die nationale Komponente. „Eine Art nationaler Sozialismus.“
Eckhard Jesse, Extremismus-Forscher und Experte für die Linkspartei, teilt in vielen Punkten die Analyse von Hubertus Knabe. „Die Linke hat es künftig schwerer, auch wenn momentan die Zahl der Eintritte die der Austritte überwiegt. Es spricht vieles dafür, dass sie im nächsten Bundestag nicht mehr vertreten sein wird, unabhängig von der Art des Wahlsystems. Sie wird schwächer als die Wagenknecht-Partei abschneiden, weder fünf Prozent der Zweitstimmen erreichen noch drei Direktmandate. Gregor Gysi würde freilich seinen Wahlkreis wieder gewinnen, wenn er noch einmal anträte“, so der Politik-Professor. Er ist sich sicher: „Nach 2025 setzt sich der Niedergang weiter fort.“ Die Wagenknecht-Partei werde zumindest sozial- und wirtschaftspolitisch bei der Linken anknüpfen. Aber bei gesellschaftspolitischen Positionen, etwa in Fragen der Migration oder mit Blick auf identitätspolitische Aspekte, dürften die Unterschiede deutlich ausfallen.
Langfristige Veränderungen von historischer Tragweite
Jenseits der Tagespolitik markieren diese Veränderungen im linken Lager aber auch langfristige Veränderungen von historischer Tragweite, die freilich schon vor längerer Zeit eingesetzt haben, die aber in ihren Auswirkungen jetzt besonders deutlich werden. Es gibt keine sozialistische bzw. marxistische Linke als geschlossene Weltanschauungsgemeinschaft mehr, die auch noch fest an ein bestimmtes soziales Milieu gebunden ist. Früher wären solche Aufspaltungen, wie sie sich jetzt vollziehen, von den Betroffenen so empfunden worden, wie es Angehörige einer Religionsgemeinschaft deuten, wenn sich Sekten abseits des Hauptstroms der eigenen Lehre bilden.
Der ersatzreligiöse Zug, der die alte Arbeiterbewegung geprägt hat, ist weg. Zumindest in der alten Form. Und soziologisch lassen sich sogar Parallelen zum katholischen Milieu finden, das sich schließlich in der gleichen Dekade verändert hat. Marxistische Arbeiterbewegung wie Politischer und Sozialer Katholizismus sind Kinder des 19. Jahrhunderts. Beide Milieus stabilisierten sich und besaßen bis weit in das 20. Jahrhundert hinein eine Wirkmacht. Das, was bei den Kirchen die Säkularisierung war, war bei den Marxisten und Sozialisten die Entideologisierung.
Schließlich: Alltagsleben und Zugehörigkeit zum weltanschaulichen Milieu fielen zusammen. Das alles gibt es nun auf beiden Seiten nicht mehr. Freilich eine Entwicklungsstufe steht der Linken noch bevor. Kritiker und politische Gegner könnten sich darüber freuen: Vielleicht macht die Linkspartei gerade die ersten Schritte in die Richtung eines Art säkularen „Synodalen Wegs“ für ihre Weltanschauung. Es könnte ein harter Marsch werden.
Die Printausgabe der Tagespost vervollständigt aktuelle Nachrichten auf die-tagespost.de mit Hintergründen und Analysen.