Bevor ich am 21. Oktober in den Libanon aufgebrochen bin, um als Projektkoordinator des Hilfswerks Initiative Christlicher Orient (ICO) verschiedene geförderte Projekte zu besuchen, war ich tagelang mit lokalen Partnern in Kontakt, um ein effizientes Besuchsprogramm auf die Beine zu stellen. Das sollte mir ermöglichen, in den wenigen Tagen meines Aufenthaltes ein Maximum an Projekten in verschiedenen Regionen des Landes zu besuchen. Wie so oft fielen meine detaillierten Planungen aber der sich im Nahen Osten rasch ändernden Situation zum Opfer. Schon lange hatten lokale Projektpartner, allen voran Schwester Mona Corbani vom Orden der Barmherzigen Schwestern von Besançon, die für alle Sozialprojekte ihres Ordens im Land zuständig ist, auf die sich immer weiter verschlechternde wirtschaftliche Lage und die mangelnden Zukunftsperspektiven vor allem der jungen Generation hingewiesen und gemeint, dass dies über kurz oder lang zu einer sozialen Explosion führen würde.
Monatliche Gebühr auf die Nutzung von Kommunikationsdiensten
Genau dies geschah kurz vor meinem Abflug Richtung Beirut. Am 17. Oktober hatte die Ankündigung von neuen Abgaben zur Explosion des Volkszorns geführt. Der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte, war vor allem die Ankündigung der Regierung, eine monatliche Gebühr von 6 US-Dollar pro Person auf die Nutzung von Kommunikationsdiensten wie WhatsApp zum Telefonieren zu erheben. Nun hat aber fast jeder Libanese Verwandte im Ausland, mit denen er zumeist via WhatsApp gratis kommuniziert, um die exorbitant hohen Telefongebühren im Libanon zu umgehen.
Brennende Barrikaden und Straßenblockaden waren in der Folge sichtbares Zeugnis des massiven Protestes gegen die politische Führung des Landes, der die Verschwendung öffentlicher Gelder und Korruption vorgeworfen wurde. Die Menschen sind müde – von den ständigen Stromausfällen, von der maroden Infrastruktur, den mit Autos und Müll verstopften Straßen, von den Politikern, denen sie nicht trauen.
Ein Land in einer schwierigen Situation
Tatsächlich ist das kleine Land am östlichen Mittelmeer – mit 10.452 Quadratkilometern nur etwas größer als Niederbayern – in einer denkbar schwierigen Situation. Die Staatsverschuldung beträgt 86 Milliarden US-Dollar, was einer Quote von 150 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) entspricht. Es ist eine der höchsten Schuldenquoten weltweit. Der Tourismus – früher eine der Haupteinnahmequellen des Landes – ist aufgrund des schon seit Jahren tobenden Krieges im großen Nachbarland Syrien und der instabilen politischen Lage im Land wie auch in der ganzen Region weitgehend eingebrochen. Außerdem leidet das Land schwer unter der vom Syrien-Konflikt ausgelösten größten Flüchtlingskrise der jüngeren Geschichte. Geschätzte 1,5 Millionen Flüchtlinge aus dem Nachbarland stellen die libanesische „Gastfreundschaft“ auf eine harte Probe.
Während meines Aufenthaltes war das öffentliche Leben durch die Massenproteste praktisch vollständig zum Erliegen gekommen. Alle Banken, Schulen und Universitäten sowie viele Geschäfte waren geschlossen und alle Hauptverkehrsadern im Land wurden von zehntausenden Demonstranten an vielen Orten rund um die Uhr blockiert, sodass jede Fortbewegung im Land erschwert wurde. Glücklicherweise blieben die Proteste weitgehend friedlich und hatten vielfach Volksfestcharakter: An einem neuralgischen Punkt war etwa die durch Beirut führende Stadtautobahn auf einer Länge von mehreren hundert Metern auf beiden Seiten durch quergestellte Autos blockiert worden, dazwischen waren Zelte aufgepflanzt worden, wo auch nachts Demonstranten schliefen, um die Blockade aufrechtzuerhalten. Menschen saßen auf Liegestühlen und rauchten Wasserpfeife, Lautsprecherboxen sorgten für musikalische Umrahmung und die Demonstranten – darunter vielfach ganze Familien mit ihren Kindern – schwenkten libanesische Fahnen und riefen „Thawra“ – „Revolution“.
Nur Nationalfahnen, keine Parteifahnen
Bemerkenswert ist, dass seit Beginn der Protestbewegung bis jetzt überall ausschließlich die rot-weiß-rote Nationalfahne mit der grünen Zeder geschwenkt wird und keine Parteifahnen, wie es in der Vergangenheit oft üblich war. Die Libanesen, die sich vielfach zunächst ihrer jeweiligen religiösen Konfession zugehörig fühlten, haben durch die aktuellen Ereignisse ein stärkeres gemeinsames Nationalgefühl entwickelt, das früher nur schwach ausgeprägt war.
Erstmals sind es Angehörige aller Konfessionen – Christen, Sunniten und Schiiten –; die gemeinsam gegen die herrschende Klasse protestieren. Es sind die größten religionsübergreifenden Demonstrationen in der jüngeren Geschichte des Landes. Pater Dany Younes, der Provinzial der Jesuiten, verkündete sogar, dass auf dem zentralen Märtyrerplatz im Stadtzentrum von Beirut, einem der Hotspots der Protestbewegung, ein Zelt errichtet worden sei, wo sich Jesuiten und Dozenten der USJ, der renommierten Jesuiten-Universität St. Josef, als Zeichen der Solidarität mit den legitimen Forderungen der Demonstranten diesen angeschlossen hätten.
Auch Kardinal Béchara Boutros Rai, der maronitische Patriarch, kritisiert die Verantwortlichen, „die die Zukunft des Staates in Geiselhaft nehmen“ und unterstützt die Anliegen der Menschen: „Die Revolte des libanesischen Volkes ist historisch und mit keiner Konfession verbunden:“ Und weiter: „Das Volk und die Jugend haben sich auf zivilisierte Weise geäußert, dass sie das Vertrauen in die Politik verloren haben und Menschen in der nächsten Regierung wollen, die nur für ihre Kompetenzen bekannt sind“.
Das Land ist politisch führungslos
Alle libanesischen Fernsehsender hatten ihr normales Programm unterbrochen und berichteten praktisch rund um die Uhr ausschließlich über die Ereignisse. Gewöhnlich war der Bildschirm geviertelt, um gleichzeitig die Demonstrationen an mehreren Orten zu zeigen, wobei dann immer abwechselnd an einen der Orte gezoomt wurde, wo dann Reporter Interviews mit den Demonstranten führten.
Gefühlt hatte seit Beginn der Proteste so ziemlich jeder Demonstrant zumindest einmal die Gelegenheit; live im Fernsehen die Regierenden zu beschimpfen und zum Rücktritt aufzufordern. Dieser Rücktritt der gesamten Regierung erfolgte dann am 29. Oktober. In einer äußerst kurzen Ansprache erklärte Ministerpräsident Saad Hariri, dass er in einer Sackgasse ohne Ausweg sei und deshalb demissioniere. Zuvor hatte er noch vergeblich versucht, die Proteste durch Zugeständnisse (Halbierung der Minister-Gehälter, Versprechen eines verstärkten Kampfes gegen Korruption) zu entschärfen. Den Demonstranten reicht das jedoch nicht. Sie wollen den Sturz der gesamten als korrupt angesehenen politischen Klasse und fordern eine reine Technokratenregierung, die völlig unabhängig von den politischen Parteien sein soll.
Am Rande des Kollaps
Eine Fernsehansprache von Staatspräsident Michel Aoun am 12. November, von dem man eigentlich Maßnahmen zur Lösung der Krise erwartet hatte, goss neues Öl ins Feuer: Er meinte, dass diejenigen, die nicht zufrieden seien, doch ins Ausland emigrieren könnten. Die Empörung darüber führte zu einer neuerlichen Intensivierung der Proteste, die das Land aber inzwischen an den Rand des Kollapses führen. Alle Banken im Land, die bereits von 18. bis 31. Oktober geschlossen waren, sind seit dem 9. November neuerlich auf unbestimmte Zeit geschlossen.
Es herrscht eine Liquiditätskrise an US-Dollar, weshalb in den ersten Novembertagen, als die Banken wieder geöffnet hatten, keine Zahlungen ins Ausland erlaubt waren. An den Geldautomaten dürfen pro Woche maximal tausend Dollar abgehoben werden, manche geben überhaupt keine Dollar mehr aus. Auch die maximal erlaubten Tages- und Wochenlimits werden ständig nach unten korrigiert. Krankenhäuser drohen bereits, keine Patienten mehr aufzunehmen. Der Libanon geht einer ungewissen Zukunft entgegen.
Der Autor ist Projektkoordinator der Initiative Christlicher Orient (ICO)
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