Der Trumpismus lebt. Während noch Tage nach dem eigentlichen US-Wahltermin keiner der Kontrahenten als Sieger feststand, war noch in der Wahlnacht klar: Donald Trump war kein „Ausrutscher“. Im Gegenteil. Mit dem Politikstil des amtierenden US-Präsidenten lassen sich auch 2020 in großem Maße Wähler gewinnen – mehr als 71 Millionen landesweit. Beinahe hätte es für eine zweite Amtszeit des Republikaners gereicht. Am Ende entschieden lediglich wenige tausend oder zehntausend Stimmen in einigen hart umkämpften Schlüsselstaaten über Sieg oder Niederlage.
Zu klagen ist Trumps gutes Recht
Der Gewinner der Wahl – so hat das amerikanische Volk entschieden – heißt Joe Biden. Auch wenn Trump bei seiner Behauptung bleibt, der Sieg sei ihm dank großflächigen Wahlbetrugs gestohlen worden. Freilich darf der Präsident in Bundesstaaten, in denen das Rennen besonders eng ausfiel, auf einer Neuauszählung der Stimmen bestehen. In manchen sieht das Wahlgesetz diese sogar vor. Und auch die juristischen Klagen gegen die Auszählung in einzelnen Staaten, wie sie republikanische Anwälte um den ehemaligen New Yorker Bürgermeister Rudy Giuliani in die Wege leiten, sind Trumps gutes Recht. Am Ausgang der Wahl wird all das nichts ändern, solange er keine handfesten Beweise vorlegen kann. Und derzeit deutet nichts darauf hin.
Der künftige Präsident Joe Biden handelt nur richtig, wenn er nicht auf jede neue Volte des Amtsinhabers reagiert. Er hat auch ohne einen uneinsichtigen Trump reichlich Aufgaben anzugehen. Aus seinen Reden wurde deutlich, dass er selbst wohl die größte darin sieht, das zutiefst zerrissene Land wieder zu versöhnen. Ein Ziel, an dem bislang eigentlich all seine Vorgänger scheiterten. Scheitert auch Biden? Zum jetzigen Zeitpunkt ist zumindest kaum vorstellbar, wie er stabile Brücken schlagen könnte. Ein erster, wünschenswerter Schritt könnte aber darin bestehen, ein Kabinett zu berufen, das nicht nur multiethnisch und -religiös ist – es muss sich vor allem durch Überparteilichkeit auszeichnen. Natürlich wird der 77-Jährige keine eingefleischten Trump-Unterstützer als Minister berufen. Doch sollte Biden konsensorientierte republikanische Politiker, die parteiübergreifend Ansehen genießen, in hochrangige Positionen heben, würde er bereits Kompromissbereitschaft signalisieren.
Biden eine Chance geben
Europa und die Welt müssen sich bewusst sein: Angesichts der innenpolitischen Herausforderungen wird Amerika auch unter Joe Biden nicht mehr als der omnipräsente Akteur auf die weltpolitische Bühne zurückkehren, den es unter früheren Präsidenten noch verkörperte. Für die Partnerländer in der NATO werden die USA sicher wieder zu einem verlässlicheren Verbündeten. Doch auch Biden wird Europas Staaten mahnen, mehr in die eigene Verteidigung zu investieren. Insgesamt dürfte er all den Allianzen und Verträgen, die Trump noch aufgekündigt hatte, wie etwa das Klimaabkommen oder den Atom-Deal mit dem Iran, neues Leben einhauchen. Diejenigen aber, die sich Amerika als Weltpolizisten zurückwünschen, werden wohl enttäuscht sein. Schon jetzt werden Stimmen laut, die Biden ob seines fortgeschrittenen Alters, der politischen Blockade in Washington und des schieren Ausmaßes an Baustellen kaum Zählbares zutrauen. Ihre Bedenken mögen berechtigt sein – sie sollten dem künftigen Präsidenten aber eine faire Chance geben, wie sie jedem neuen Amtsinhaber zusteht.
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