In Afghanistans Nachbarland Pakistan blicken Angehörige von Minderheiten mit Sorge um ihre Zukunft auf die Machtübernahme in Kabul durch die Taliban. Die heimliche Allianz zwischen den extremistischen Kämpfern in Afghanistan und Pakistan ist eng und reicht bis in die Zeit von Zulfikar Ali Bhutto zurück, 1971 bis 1973 Staatspräsident und 1977 Premierminister des Landes. Die Aufrüstung der afghanischen Mudschaheddin durch den früheren pakistanischen Diktator General Mohammed Zia ul Haq (1977 bis 1988) gemeinsam mit dem US-Geheimdienst CIA gegen die sowjetische Besatzungsmacht wirkt bis heute nach: Die Taliban gingen aus ihnen hervor. Der aktuelle Premierminister Imran Khan betonte, der Sieg der Taliban habe Ketten einer „Sklavenmentalität“ aufbrechen lassen.
Pakistan ist seit 2001 Bündnispartner der USA im Krieg gegen den Terror, zugleich jedoch Rückzugsgebiet für militante Islamisten, darunter auch afghanische Taliban. Der Terror der eigenen, pakistanischen Taliban richtete sich verheerend gegen die Zivilbevölkerung: Zwischen 2001 bis 2011 fielen ihm Zehntausende zum Opfer. Ihr Einfluss in Pakistan könnte sich nun durch die neue Lage auf drei Wegen Bahn brechen und außer Kontrolle geraten: durch das Erstarken der alten Weggefährten in Kabul, durch neue Allianzen mit jüngeren radikalislamischen Gruppen sowie durch die Anwerbung neuer Sympathisanten.
Terroristen freigelassen
Am Dienstag voriger Woche wurde bekannt, dass die Taliban in Afghanistan Hunderte Terroristen unmittelbar nach ihrem Siegeszug auf freien Fuß setzten, darunter, neben Al Kaida- und IS-Kämpfern auch pakistanische Taliban, darunter auch hochrangige Kommandeure dieser Gruppen. Die pakistanischen Taliban der Tehreek-e-Taliban Pakistan (TTP), seit 2008 verboten und seit 2015 durch US-amerikanische und pakistanische Militäroperationen zurückgedrängt, bereiten seit einiger Zeit Beobachtern Sorgen. Angriffe der TTP, ihre Propaganda und Einschüchterung der lokalen Bevölkerung haben spätestens seit Anfang dieses Jahres mit einer Reihe von Attentaten in Waziristan im Nordwesten Pakistans, zu denen sie sich bekannte, Fahrt aufgenommen. Sie haben sich zudem Anfang August mit einer der gefährlichsten Terror-Banden, der Ustad-Aslam-Gruppe, verbündet, die schon in der Vergangenheit durch Attentate in Städten Schrecken verbreitete.
Eine Beobachterin, die die Rückkehr der Taliban beiderseits der Grenze mit Sorge genau verfolgt, ist die christliche Menschenrechtsanwältin Aneeqa Anthony aus Lahore. Im Gespräch mit dieser Zeitung erläutert sie ihre Einschätzung der Lage: „Minderheiten haben Angst vor den Folgen. Wir erkennen mehr Gewalt sowie Intoleranz, begleitet von mehr Ungerechtigkeit und Islamisierung.“ Sie erwarteten nach der Stabilisierung der Herrschaft unter den Taliban in Afghanistan, dass „verbotene Truppen“ ihren Fokus auf Pakistan richteten, um dort den inneren Frieden zu stören.
Religiöse Minderheiten rechnen mit Übergriffen
Daran, dass religiöse Minderheiten zu den vorrangigen Zielen gehören, von denen Blutzoll gefordert wird, erinnern regelmäßige Anschläge verschiedener Kampfgruppen: Jüngstes Beispiel ist ein Sprengstoffattentat in Bahawalnagar in der Provinz Punjab gegen eine schiitische Prozession, bei dem drei Gläubige starben und rund 50 weitere Teilnehmer verletzt wurden. Die Schiiten, die in Pakistan rund 20 Prozent der Bevölkerung ausmachen, gedachten am vergangenen Donnerstag, dem „Tag der Aschura“, mit Prozessionen des Martyriums des Prophetenenkels Hussein. Vorsorglich waren zuvor auf Anordnung der Behörden an mehreren Tagen in der vergangenen Woche Internet- und Mobilfunkverbindungen in vielen Stadtzentren unterbrochen und Zufahrtsstraßen blockiert worden. Das reichte offensichtlich nicht aus, die anti-schiitischen Täter aufzuhalten.
Sympathie für den Nachbarn
Große Teile der pakistanischen Gesellschaft dürften die Vorgänge im westlichen Nachbarland mit Sympathie verfolgen: Auf dem Gelände des Lahore Forts, das immerhin auf der UNESCO-Liste des Weltkulturerbes steht, zerstörte ein Anhänger der radikalislamischen Partei Tehreek-e-Labbaik die Statue des Maharadscha Ranjit Singh, des „Löwen von Punjab“. Dieser besiegte in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts afghanische Invasoren, war mit den Briten verbündet und vereinte die Region. Die Darstellung zeigte den Sikh-Herrscher zu Pferd mit Turban und Schwert. Dem Täter gelang es, die Figur von der Pferdskulptur zu stürzen, bevor er dann wegen dieses symbolträchtigen Vandalismus festgenommen wurde.
Herausforderungen
Die Partei, der sich der Täter verbunden fühlt, ging aus der fanatischen Bewegung hervor, die die Hinrichtung der Christin Asia Bibi wegen angeblicher Blasphemie gefordert hatte und deren Millionen Anhänger mehrfach schon durch Proteste das öffentliche Leben lahmgelegt haben.
Die fanatisch-sunnitischen Taliban könnten dieser Gruppe nun den Rücken stärken. Die größte Herausforderung bestehe darin, dass die Machtübernahme als Sieg des Islam über die als christlich wahrgenommen USA gefeiert werden könnte, meint der pakistanische Menschenrechtsexperte Asif Aqeel gegenüber dieser Zeitung. „Diese vermittelt der Jugend in Pakistan die Botschaft, dass sich die dschihadistische Denkweise auszahlt“, befürchtet er. Mehr als 60 Prozent der pakistanischen Bevölkerung seien junge Menschen. Er fürchte eine letztlich noch stärkere Islamisierung und einen damit einhergehenden „Druck auf die Minderheiten“, insbesondere auch auf die kleine Gemeinschaft der Christen von weniger als zwei Prozent. Aqeel treibt um, dass mit der radikalislamistischen Ideologie auch noch mehr Waffen über die Grenze gelangen und so seine Heimat zu einer Brutstätte des Islamismus werde.
Sichtbare Zeichen
Weitere sichtbare Zeichen der Sympathie für die siegreichen radikalislamischen Kämpfer meldeten Beamte der pakistanischen Hauptstadtverwaltung anonym den Medien aus Islamabad: Vier bis fünf Flaggen des Islamischen Emirats Afghanistan seien auf dem Dach eines zentralen Gebäudes am Samstag nach dem Mittagsgebet gesichtet worden. In dem Gebäude befindet sich ein Schulungszentrum, das unter polizeilicher Beobachtung steht. Nachforschungen ergaben bislang, dass Schüler dieser Einrichtung die weiße Flagge mit schwarzer Schrift gehisst hatten.
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