Exzellenz, der Bergkarabach-Konflikt ist in Deutschland angekommen: Anfang Dezember machten die „Grauen Wölfe“ von sich reden, weil sie im hessischen Hanau Morddrohungen in die Briefkästen armenischer Christen steckten. Wie steht es um die armenische Gemeinschaft in Deutschland?
Ich habe an die Innenminister einiger Bundesländer appelliert, weil wir die Bedrohung durch türkische Extremisten, insbesondere durch die „Grauen Wölfe“, ernst nehmen und uns um die Sicherheit unserer Gemeinde- und Kirchenmitglieder sorgen. Es ist nicht das erste Mal, dass wir uns diesbezüglich an die Politik wenden. Im Juli reichte unsere Gemeinde einen schriftlichen Vorschlag ein, da zu dieser Zeit einige Kreise darauf abzielten, den Bergkarabach-Konflikt nach Europa und auch nach Deutschland zu verlagern und Auseinandersetzungen zwischen den aserbaidschanischen und armenischen Gemeinschaften zu provozieren. Gleichzeitig ereigneten sich einige Vorfälle in Deutschland, zum Beispiel wurde der Dienstwagen der armenischen Botschaft in Brand gesetzt und eine von einem Armenier geführte Bar wurde angegriffen. Unter Schirmherrschaft des Innenministeriums wollten wir ein Treffen zwischen aserbaidschanischen und armenischen Zentralorganisationen in Deutschland organisieren, um zur Beruhigung und zum friedlichen Zusammenleben aufzurufen. Ich weiß nicht, wie weit unser Vorschlag bearbeitet wurde, aber es fand kein Treffen statt.
Werden die Armenier in Deutschland „überhört“, wenn es um den Konflikt und die Bedrohungen hierzulande geht?
"Zum Frieden aufzurufen ist gut und notwendig,
aber die Diplomatie hat [...] auch andere Methoden,
die Kriegstreiber auf Verhandlungen und Frieden zu drängen"
Angesichts des Bergkarabach-Konfliktes kann ich Ihre Frage mit Ja beantworten. Seit Kriegsbeginn haben wir immer wieder betont, dass den Krieg nicht die Armenier angefangen haben, dass die Armenier überhaupt kein Interesse hatten, einen Krieg anzufangen und zu führen, und dass das Ziel des aserbaidschanischen Präsidenten Aliyev die endgültige Eroberung von Bergkarabach ist. Dennoch hat die Politik den eindeutigen Angreifer mit dem Verteidiger von Leben und Heimat gleichgesetzt und beide Parteien aufgerufen, den Krieg zu stoppen. Wie sollte Armenien den Krieg stoppen, wenn die andere Seite andauernd angreift? Aserbaidschan hat zivile Infrastrukturen mit Langstreckenraketen bombardiert, international geächtete Streubomben einsetzt. Die Türkei hat Aserbaidschan militärisch und logistisch unterstützt, und angeheuerte Söldner und Terroristen in Bergkarabach eingesetzt. Zum Frieden aufzurufen ist gut und notwendig, aber die Diplomatie hat, denke ich, auch andere Methoden, die Kriegstreiber auf Verhandlungen und Frieden zu drängen.
Die EU hatte sich in jüngster Zeit als neuer Verbündeter Armeniens angeboten. Wurde das Vertrauen enttäuscht?
Es ist kein Geheimnis, dass Armenien im Gegensatz zu Aserbaidschan, wo seit mehr als 25 Jahren eine Familiendiktatur herrscht, selbst während der vorherigen Regierung als ein relativ demokratisches Land angesehen wird. In den letzten gut zweieinhalb Jahren nach seiner Amtsübernahme hat Premierminister Nikol Paschinjan Schritte unternommen, um Armenien zu einem demokratischen Staat nach europäischen Maßstäben aufzubauen. Paschinjan war, denke ich, an einer friedlichen Lösung des Karabach-Konflikts interessiert.
Europa hätte diese Politik intensiver unterstützen sollen. Es hätte für alle klar sein müssen, dass ein neuer Krieg beide Prozesse erschweren würde. Europa hätte Aserbaidschan von Anfang an verurteilen und einen sofortigen Stopp der Angriffe verlangen müssen. Tagelang schwieg die europäische Politik. Sie schwieg über die Kriegsverbrechen von Aliyev und Erdogan. Ein demokratisch gesinntes Land kämpfte gegen zwei Diktatoren sowie gegen von ihnen angeheuerte Terroristen und hoffte auf Solidarität von Europa, bekam jedoch keine ausreichende Unterstützung.
Katholikos Karekin II. hat den armenischen Regierungschef Nikol Paschinjan zum Rücktritt aufgefordert. Ist sein Schicksal damit besiegelt? Wie viel Einfluss hat die Kirche in Armenien?
"Es kommt selten vor, dass sich die Armenische Kirche,
insbesondere auf Ebene ihres Oberhauptes,
in die innenpolitischen Angelegenheiten im Land einmischt"
Es kommt selten vor, dass sich die Armenische Kirche, insbesondere auf Ebene ihres Oberhauptes, in die innenpolitischen Angelegenheiten im Land einmischt. Wir Geistlichen erwähnen oft, dass die Armenisch-Apostolische Kirche eine nationale Kirche ist mit einer deutlichen prostaatlichen Haltung. Diesmal hat die Kirche jedoch ihre Stimme auf der Ebene des Katholikos Aller Armenier und des Katholikos des Großen Hauses Kilikien erhoben, da die Unabhängigkeit und Sicherheit Armeniens bedroht war und ist. Die Armenier von Bergkarabach haben nicht nur die Sicherheitszone um ihr Land verloren, sondern auch etwa 30 Prozent des eigentlichen Territoriums von Bergkarabach. Aliyev und Erdogan bedrohen offen Armenien. Armeniens Staatsgrenzen sind nicht sicher. Die Kirche ist besorgt über die ungewisse innenpolitische Situation und fordert die politischen Parteien auf, Lösungen innerhalb des in der Verfassung vorgesehenen Rahmens zu finden. Der Aufruf zum Rücktritt von Premierminister Paschinjan sollte in diesem Zusammenhang gesehen werden.
Welche Verbindungen gibt es aktuell zwischen der römisch-katholischen und der armenisch-apostolischen Kirche in Deutschland?
Die Armenisch-Apostolische Kirche im Allgemeinen und die Diözese der Armenischen Kirche in Deutschland unterstützen nachdrücklich die Zusammenarbeit verschiedener christlicher Kirchen sowohl in bilateralen als auch in multilateralen Beziehungen. Ich bin ein Geistlicher, der seit über 25 Jahren seinen Priesterdienst in Deutschland leistet. Neben meinem innergemeindlichen Dienst vertrat ich unsere Kirche und die Ortsgemeinden in verschiedenen ökumenischen Gremien. Ich halte die guten Beziehungen zu anderen Kirchen, auch zur Römisch-Katholischen Kirche, für sehr wichtig.
So traf ich mich nach meiner Wahl zum Primas der Diözese sowohl mit dem damaligen Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz, Kardinal Reinhard Marx, in München, als auch mit dem Kölner Kardinal Woelki. Anlässlich meiner Bischofsweihe im Mai letzten Jahres besuchte die offizielle Delegation der Deutschen Bischofskonferenz unter der Leitung des Ökumenebischofs Feige Sankt Etschmiadzin in Armenien. Bei meiner Amtseinführung in Köln im Mai desselben Jahres war auch der Weihbischof Steinhäuser anwesend und sprach im Namen der Bischofskonferenz und des Erzbistums ein Grußwort.
Nur drei unserer 16 Diözesangemeinden in Deutschland haben eigene Gotteshäuser. Unsere Diözesankirche ist eine ehemalige katholische Kirche, die uns seit mehr als 30 Jahren ständig zur Verfügung steht. Viele unserer Gemeinden feiern ihre Gottesdienste in einer katholischen Kirche vor Ort. Ich betone mit Dankbarkeit, dass sie uns ihre Kirchen gerne für die Abhaltung unserer Gottesdienste zur Verfügung stellen. Es gibt auch viele andere Bereiche, zum Beispiel Stipendien für Theologiestudenten, in denen uns die katholische Kirche unterstützt.
Was könnte die katholische Kirche in Deutschland aus Sicht der armenischen Kirche besser machen, gerade in Bezug auf die aktuellen Ereignisse in Bergkarabach und hierzulande?

Während des Krieges zwischen Aserbaidschan und Bergkarabach fühlten wir die Solidarität unserer Schwesterkirchen. Hochrangige Vertreter vieler Kirchen drückten ihre Unterstützung für uns und unser Volk durch Briefe, Telefonanrufe, Besuche und gemeinsame Gebete für den Frieden aus. Im Münchner Liebfrauendom fand auf unsere Initiative ein Friedensgebet statt, an dem sowohl Kardinal Marx als auch Landesbischof Bedford-Strohm teilnahmen und kurze Grußworte sprachen. Dennoch wäre es wünschenswert gewesen, wenn die beiden großen Kirchen bereits in den ersten Kriegstagen mit einem gemeinsamen Aufruf die Wiederaufnahme der Feindseligkeiten eindeutig verurteilt hätten. Das Schweigen oder Fehlen einer klaren Position vieler, einschließlich der Kirchen, trug zur kriegerischen Politik von Aliyev und Erdogan bei, und sie setzten den Krieg mit enormer militärischer Gewalt fort und verursachten enorme Verluste und Zerstörungen. Jetzt können die Kirchen, insbesondere die katholische Kirche, mit einem humanitären Appell dazu aufrufen, den Austausch von Kriegsgefangenen und Opfern zu beschleunigen und die Rückkehr der Flüchtlinge in ihre Wohnorte zu ermöglichen.
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