Selbst als die Anklägerin von Pater Hermann Geißler im September für einen Artikel in der Wochenzeitung „Die Zeit“ den Beschuldigten kenntlich gemacht hat, war nicht die Rede von Ausübung pastoraler Macht oder gar von Gewalt. Das damalige Verhalten des nun nicht mehr im Dienst der Glaubenskongregation stehenden Geistlichen der Gemeinschaft „Das Werk“ mag man als unklug oder peinlich bezeichnen, aber es in der Schublade „sexueller Missbrauch“ abzulegen, wäre unredlich, zumal der Beschuldigte seine Unschuld beteuert und der Ausgang eines kanonischen Verfahrens erst noch abzuwarten ist. Aber so ist die Stimmung. Medien, auch von der Kirchensteuer finanzierte, griffen das Thema begierig auf, denn sexuelle Gewalt im kirchlichen Raum ist – und das hat sich die Kirche selbst eingebrockt – ein Thema, das immer für eine Schlagzeile taugt. Manche mögen da vom Missbrauch mit dem Missbrauch sprechen, ja befürchten, dass der gesamte Berufsstand der Kleriker unter Generalverdacht gestellt werden soll. Pater Geißler ist kein überführter „Täter“. Aber zu Tätern können die werden, die den Missbrauchsverdacht nutzen, um eine ganz andere (innerkirchliche) Agenda zu betreiben. Immerhin: Geißler saß bei den Gesprächen mit deutschen Bischöfen über die Kommunionzulassung von evangelischen Ehepartnern „auf der anderen Seite“, das heißt auf der der Glaubenskongregation. Und Medienspekulationen zufolge soll er mit der „causa Wucherpfennig“ zu tun gehabt haben. Da kann einem ganz anders werden, wenn man befürchten muss, dass das Verbrechen des Missbrauchs von Schutzbefohlenen nun auch dazu benutzt wird, offene Rechnungen zu begleichen oder Altbewährtes zu entsorgen, wie etwa die Ohrenbeichte oder die geistliche Leitung im seelsorglichen Gespräch unter vier Augen. Es wäre wirklich eine Hexenjagd, wenn man allen Geistlichen unterstellen würde, die Seelenführung nur zu nutzen, um Macht über andere auszuüben. Das wäre das Ende jeglichen Vertrauens in der Kirche, mit dem die Gewinnung der Herzen für eine ernsthafte Nachfolge Jesu nun einmal steht und fällt.
Kommentar: Hexenjagd
Sexuelle Gewalt im kirchlichen Raum hat sich die Kirche selbst eingebrockt. Von Guido Horst