Wieder hat der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan der EU gedroht, die Grenzen für syrische Flüchtlinge zu öffnen. Diesmal erreicht seine Drohung die EU im Zustand maximaler Verwirrung: Ursula von der Leyen hat ihre neue EU-Kommission noch nicht durchs Europäische Parlament gebracht, die alte Mannschaft von Jean-Claude Juncker packt bereits die Koffer und der Rest der politischen Klasse Europas blickt schreckensstarr auf das britische Chaos. Vier Jahre nach dem Flüchtlingsherbst von 2015 wäre eine neuerliche Migrationskrise ein Stresstest zuviel für die in Dissens vereinten Europäer.
Ach, wenn es doch bloß ums Geld ginge
Griechenlands Ministerpräsident Kyriakos Mitsotakis hat die Drohung aus Ankara mit der Bemerkung pariert, die Türkei könne nicht noch mehr Geld erpressen, denn die EU habe bereits sechs Milliarden Euro für die Versorgung der syrischen Flüchtlinge in der Türkei nach Ankara überwiesen. Ach, wenn es doch bloß um Geld ginge! Probleme, die mit Geld lösbar sind, haben die EU und ihre Mitgliedstaaten stets irgendwie in den Griff bekommen – sogar die griechische Finanz- und Schuldenkrise.
Brüssel fehlt mitunter das Fingerspitzengefühl
Erdogans Drohung spiegelt jedoch ein politisches und psychologisches Problem, und dafür fehlt Brüssel mitunter das Fingerspitzengefühl. Seit die AKP den Bürgermeister-Thron von Istanbul verlor, fragen sich immer mehr Türken, ob Erdogan noch der starke Mann ist, dem sie die Führung des Landes zutrauen. Hochrangige AKP-Politiker setzen sich bereits ab und basteln an neuen Parteien. Gleichzeitig ist unübersehbar, dass Ankara seine Kriegsziele in Syrien verfehlt hat und vom Partner des Westens mehr und mehr zum Lakaien Putins mutiert. 3,6 Millionen Flüchtlinge aus Syrien hat die Türkei aufgenommen. Das stellt trotz aller EU-Überweisungen eine enorme Belastung für die türkische Gesellschaft dar. Erdogan steht also unter Druck. Seine Drohung zeigt, dass er nach einem Ventil sucht.