Die von Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) gewünschte Einführung einer allgemeinen Impfpflicht spaltet die Gesellschaft. Für die einen ist sie der einzige Weg, der aus der Pandemie führt. Für andere ist sie ein so respekt- wie rücksichtsloser Angriff des Staates auf die körperliche Unversehrtheit von Impfskeptikern und der kollektive Bruch eines Versprechens, das die Regierenden den Regierten über Monate hinweg in zahlreichen Variationen gaben. Für wieder andere ist sie in erster Linie ein brandgefährliches Projekt. Eines, das angesichts unzureichender Waffen im Kampf gegen einen mutationsfreudigen Virus zum Scheitern verurteilt sei und das die beobachtbare Entfremdung von Volk und Regierung weiter forciere. Und eines, mit dem Politik Gefahr laufe, sich bis auf die Knochen zu blamieren.
Allgemeine Impfpflicht käme zu spät
In einem Punkt sind jedoch alle einig. Niemand zweifelt inzwischen noch daran, dass eine allgemeine Impfpflicht gegen die Virusvariante Omikron, die derzeit das Pandemiegeschehen bestimmt, zu spät käme. Das sei, wie Virologen jedweder Coleur bestätigen, angesichts der Geschwindigkeit, mit der sich Omikron ausbreitet und Ungeimpfte wie vollständig Geimpfte infiziert selbst vor Geboosterten macht das Virus keinesfalls immer Halt auch nicht mehr zu ändern. Das Gute daran: Der Deutsche Bundestag könnte sich hinreichend Zeit für eine penible Erarbeitung von Gesetzentwürfen und eine ausführliche Debatte nehmen.
Tatsächlich gibt es Vieles, das auch nach Ansicht von Befürwortern einer allgemeinen Impfpflicht, sorgfältig erwogen werden muss. Dies beginnt bei der Frage, wie eine allgemeine Impfpflicht ohne ein nationales Impfregister überhaupt organisiert und kontrolliert werden kann, reicht über die Frage, wie Verstöße sanktioniert werden und wie der Staat, mit jenen umgehen soll, die sich davon unbeeindruckt zeigen. Und es endet schließlich bei der Frage, wer für die eventuellen Schäden aufkommt - "seltene" oder auch nur "sehr seltene", dafür aber schwere Nebenwirkungen, die Menschen infolge von Impfungen davontragen.
Österreichs Regierung hält an Impfpflicht fest
Zu diesen Fragen, die, wenn sie vor den Gerichten, wo sie unzweifelhaft landen werden, Bestand haben sollen, sorgfältig erwogen und geklärt werden müssen, gesellen sich weitere Aspekte, die eher medizinischer und logistischer Natur sind, aber ebenfalls tragfähiger Antworten bedürfen: Wie viele Impfungen werden und in welchen Abständen - eigentlich von einer allgemeinen Impfpflicht gegen COVID-19 erfasst? Drei, vier, noch mehr? Und wie stellt der Staat sicher, dass zu den Terminen jeweils ausreichend Impfstoff zur Verfügung steht, und dieser dann überall, anstatt wie derzeit bloß mancherorts verfügbar ist?
In den USA prüft derzeit der Oberste Gerichtshof, ob die Regierung von US-Präsident Biden befugt war, eine Impf- und alternative Testpflicht der Belegschaft von Unternehmen mit mehr als einhundert Beschäftigten anzuordnen. Nach Angaben der US-Regierung betraf die inzwischen gestoppte Regelung 84 Millionen Angestellte. Das sind mehr als Deutschland Einwohner hat.
Auch in Österreich hinterfragen immer mehr Virologen die Sinnhaftigkeit einer Impflicht angesichts der aktuellen Omikron-Welle, und auch die technische Umsetzung scheint dort nun frühestens ab April möglich. Dennoch hält die Bundesregierung in Wien an der Impfpflicht ab 1. Februar fest. Bundeskanzler Karl Nehammer (ÖVP), der vor wenigen Tagen selbst "positiv" getestet wurde, meint: "An der Notwendigkeit der Impfpflicht besteht kein Zweifel, aus meiner Sicht." Viele sehen das offenbar anders. Denn gegen das Gesetzesvorhaben wandten sich im Begutachtungsverfahren bis Dienstag mehr als 180.000 Stellungnahmen: Ein Rekord in der Geschichte des österreichischen Parlaments. Zwar beteiligt sich die oppositionelle FPÖ an allen Großdemonstrationen gegen die Regierungslinie. Doch wandten sich zuletzt auch mehrere prominente SPÖ-Politiker gegen die Impfpflicht.
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