Hessens Innenminister Peter Beuth (CDU) soll die von Lebensrechtlern auch als „Maulkorb-Erlass“ bezeichnete „Handreichung zur Lösung von Konfliktfällen vor Schwangerschaftskonfliktberatungsstellen, Arztpraxen und Kliniken“ „umgehend zurückziehen“. Das fordern die Unterzeichner einer Ende vergangener Woche auf der Internetplattform „CitzenGo“ gestarteten Online-Petition. Wie es in der Petition heißt, beeinträchtige der „gegen alle demokratischen Gepflogenheiten verstoßende Erlass“ die „Versammlungsfreiheit entscheidend“.
Lebensschützer sprechen von einem "Maulkorb-Erlass"
Per Erlass habe Hessens Innenminister „verfügt, ,dass singende, betende oder Schockfotos tragende Demonstranten‘ in Hessen zukünftig nicht mehr in Sicht- oder Rufweite von Beratungsstellen der Organisation Pro Familia, die mit der weltweit größten Abtreibungsorganisation Planned Parenthood verflochten ist, für das Lebensrecht ungeborener Kinder demonstrieren dürfen.“ Dasselbe gelte für „Arztpraxen, in denen Abtreibungen vorgenommen werden“.
Ähnlich sehen das auch Abtreibungsbefürworter. So triumphierte etwa die vorgeburtliche Kindstötungen vornehmende Gießener Allgemeinärztin Kristina Hänel am 22. August auf dem Kurznachrichtendienst Twitter: „Erlass des hessischen Innenministeriums: Keine Demos vor Beratungsstellen für Schwangere“.
Jurist Büchner: Erlass verbietet Protestkundgebungen nicht
Der Verwaltungsrechtsexperte und ehemalige Vorsitzende Richter am Verwaltungsgericht Freiburg, Bernward Büchner, hält eine solche Lesart für falsch. Der „Tagespost“ sagte Büchner, der Erlass des hessischen Innenministeriums verbiete keineswegs Protestkundgebungen vor Beratungsstellen, Arztpraxen und Kliniken. Auch würden mit ihm „keine Bannmeilen für Lebensrechtler“ vor diesen Einrichtungen errichtet. Stattdessen informiere der Erlass die Regierungspräsidien Darmstadt, Gießen und Kassel und die ihnen nachgeordneten Behörden über Gerichtsentscheidungen, „die zu verschiedenen Formen der Meinungsäußerung gegen Schwangerschaftsabbrüche“ ergangen seien, „ohne die untergeordneten Behörden anzuweisen, wie in solchen Fällen konkret zu verfahren ist“.
So zitiere der Erlass etwa eine Entscheidung des Verwaltungsgerichts Freiburg, der zufolge „allgemein gehaltene Formen des Protestes und der Meinungskundgabe gegen Schwangerschaftsabbrüche weiterhin und zumindest in der Nähe der betreffenden Orte möglich sein müssen“. Ferner zitiere der Erlass „eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, nach welcher Proteste gegen Schwangerschaftsabbrüche in der Nähe von Arztpraxen grundsätzlich hingenommen werden müssen“.
Im Streitfall entscheiden die Gerichte
Nach einer in dem Erlass ebenfalls angeführten Entscheidung des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg stelle allerdings „die aktive persönliche Ansprache“ durch Dritte auf der Straße auf die Themen Schwangerschaft oder Schwangerschaftskonflikt („Gehsteigberatung“) „einen gravierenden Eingriff in das allgemeine Persönlichkeitsrecht der betroffenen Frau dar, der untersagt werden kann“. Daraus könne „jedoch keineswegs geschlossen werden, dass dies auch für Aktionen im Nahbereich einer Beratungsstelle gelten soll, die – wie etwa Gebetswachen – auf eine solche persönliche Ansprache verzichten“, so Büchner.
Der Verwaltungsrechtsexperte, der auch jahrelang Vorsitzender der Juristen-Vereinigung Lebensrecht (JVL) war, rechnet allerdings damit, „dass die zuständigen Behörden in Einzelfällen versuchen werden, Meinungskundgaben von Lebensrechtlern im Nahbereich von Beratungsstellen weiter einzuschränken“. Ob dabei „die Grenze des Zulässigen“ überschritten werde, entschieden jedoch „im Streitfall letztlich die Gerichte unter Abwägung der widerstreitenden Grundrechte und nicht ein Ministerium per Erlass oder eine untergeordnete Behörde“. Was auch immer die in Hessen entscheiden, dass der Erlass eines CDU-geführten Innenministeriums Nachahmer in anderen Bundesländern auf den Plan rufen wird, darf als sicher gelten.