Leitartikel

Ist der Papst der größere Realist?

Franziskus ist pessimistisch: Für ihn geht die Menschheit auf einen Abgrund zu. Der Ukraine-Krieg droht zum globalen Pulverfass zu werden.
Papst Franziskus mahnt zum Frieden
Foto: IMAGO/Evandro Inetti | Immer wieder, bei Audienzen und in Predigten, mahnt der Papst zum Frieden.

Das Schaulaufen der Mächtigen ist beendet. Biden überraschend in Kiew, Putin verdreht in Moskau die Fakten, und der amerikanische Präsident antwortet kämpferisch in Warschau. Russland kündigt die Aussetzung des atomaren Abrüstungsvertrags „New Start“ mit den Vereinigten Staaten an und die Ukraine verlangt von den westlichen Verbündeten Streubomben, weil auch die russische Armee Streumunition gegen ukrainische Zivilisten einsetze.

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Der große Krieg

Das Szenario für den ganz großen Krieg ist bereitet. Und in Warschau stimmte die Choreografie: Auf der Schaubühne im Königlichen Schlossgarten prangte die amerikanische Fahne neben der ukrainischen und polnischen. Die der EU fehlte. Weder in Kiew, Moskau oder Warschau wurde von Europa gesprochen, von jenem Kontinent, der nach den Gemetzeln des vergangenen Jahrhunderts zu einem friedlichen Zusammenleben der Nationen und Kulturen fand.

Stattdessen stehen sich jetzt zwei Mächte gegenüber. Russland und die NATO. Biden hat, wie er stolz verkündet, den freien Westen, die Demokratien gebündelt. Und Putin schwört sein Land auf eine Auseinandersetzung mit der Militärmacht des Westens ein. Das harte „Nein“, das der amerikanische Präsident dem Diktator in Moskau entgegenhält, gehört zu dem Machtpoker, der da vonstatten geht.
Putin keilt zurück und verbreitet unter den Seinen das Narrativ, dass die Eliten des Westens Russland zerschlagen wollen. Das Dumme bei einem solchen Poker ist, dass ein Funke reicht, um das ganze Gemisch zur Explosion zu bringen.

Kraft zur Umkehr

Als größtes Übel dieser Zeit hatte Papst Franziskus bei seinem Treffen mit den Jesuiten im Kongo und Südsudan „die Produktion von Waffen“ bezeichnet. „Syrien lebt seit zwölf Jahren im Krieg, und dann der Jemen. Da ist Myanmar mit dem Drama der Rohingya. Auch in Lateinamerika gibt es Spannungen. Und dann dieser Krieg in der Ukraine. Die ganze Welt ist im Krieg“, klagte Franziskus und zeigte sich vor den Jesuiten im ebenfalls nicht gerade gewaltfreien Kongo wenig hoffnungsfroh: „Ich aber frage mich: Hat die Menschheit den Mut, die Kraft oder überhaupt die Möglichkeit, umzukehren? Ich weiß es nicht, das ist die Frage, die ich mir stelle: Sie geht immer weiter, voran, voran auf den Abgrund zu. Ich sage es nicht gerne, aber ich bin ein bisschen pessimistisch.“

Seit dieser Woche dürfte der Papst noch pessimistischer sein. Dass ausgerechnet China, dessen Außenminister ebenfalls diese Woche mit einem Zwölf-Punkte-Plan für Verhandlungen in Moskau eingetroffen ist, zum Friedensbringer wird, können nur wenige glauben, da auch das Reich der Mitte die Zeit der USA als hegemonialer Weltmacht Nummer eins beenden will. Schon die Münchner Sicherheitskonferenz hatte erkennen lassen, dass nicht die Stunde der Diplomatie geschlagen hat, sondern die der auch militärischen Stabilisierung des eigenen Lagers.

Die Front bröckelt

So war auch der Besuch Bidens in Kiew und Warschau nicht nur eine klare Ansage an Putin, sondern eine Botschaft an die eigenen Landsleute, sich entschlossen um den Präsidenten zu sammeln, um sich der Welt nach dem Afghanistan-Debakel wieder als erstarktes Amerika zu präsentieren. Biden weiß, dass die Front der Befürworter einer weitreichenden militärischen Unterstützung der Ukrainer im eigenen Land gebröckelt war. Diese Risse in der Mauer dürfte er jetzt in Europa vorerst wieder glattgespachtelt haben.

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